August Ruhs – Scheinbar aus dem Himmel gefallen - 2012
Texte

Insbesondere mit jenen Arbeiten aus letzter Zeit, in denen bevölkerte und unbevölkerte Landschaft, Fotografie und Skulptur eng miteinander verbunden und verschränkt sind, berührt Manfred Wakolbinger die nimmermüde Frage nach Wesen und Erscheinung kategorialer Gegebenheiten, welche im vorliegenden Gegenstandsbereich vor allem die Begrifflichkeiten von Realität und Fiktion, Illusion und Wirklichkeit, Bild und Sprache, Ding und Objekt betreffen. Denn die Selbstverständlichkeit, mit der hier die Bilder die Versammlung ihrer heterogenen Elemente als Gefüge eines homogenen Ganzen auftreten lassen, erweist sich nach dem ersten Augenschein als trügerisch und als Spiel von intendierter Täuschung und Montage. Tatsächlich findet hier Inszenierung statt, wodurch die in das Bild gestellten metallischen Kreaturen nicht nur zu fremden Wesen, sondern auch wesensfremd für das Bildhafte werden. Indem sie trotz offensichtlicher Objektalität vornehmlich Dingcharakter besitzen, entfernen sich die zu Gestellen mutierten skulpturalen Gebilde aus der Realität des bildhaften Szenarios und werden zu stummen und sprachlosen Zeugen eines sie umgebenden diskursiv verfassten Weltausschnitts. In einem solchen Bildriss deutet sich jene Kluft an, die in ihrer ganzen Tiefe den Seinsgrund berühren und einen existenziellen Raum jenseits von Bedeutung, jenseits der Bilder und Zeichen eröffnen würde. Vergleichbar mit dem sogenannten „Nabel des Traums“, der die Austrittsstelle des Geträumten aus dem Geltungsbereich der Interpretation markiert, verliert sich an diesem Ort der die Objektwelt wahrnehmende Blick (engl. look), um sich selbst in Gestalt des vom Anderen her erfahrenen Blicks (engl. gaze) als dem Ur-Objekt der Schaulust und des Schautriebes zu begegnen. Dies bedeutet auch, dass in der Entwicklungsgeschichte des Gesichtssinnes das Gesehenwerden dem Sehen vorausgeht. Es wird zu zeigen sein, dass die in die diversen Gegenden hineinragenden und aus den Bildern herausragenden plastischen Ungeheuer Wakolbingers allegorisch für diesen dinghaften Blick einstehen. In einer solchen Sinnbildhaftigkeit und in ihrer Virtualität stellen sie Bilder dritter Ordnung dar, sofern wir die direkt erfasste, das heißt wahrgenommene Realität als primäre und die reproduzierte bzw. fotografierte Realität als sekundäre Bildgestaltung kennzeichnen wollen. Damit ist auf die Distanz hingewiesen, die uns Menschen als Kultur- und Sprechwesen stets und für immer vom Natürlichen trennt, sodass auch die Realität allzeit ein Konstrukt ist.

Zwischen der Interpretation vorhandener Welten und der Schöpfung neuer Welten stehend, ist dem Künstler in seiner Wahrheitssuche bewusst, dass uns einerseits der Zugang zum Urgrund alles Seins und alles Seienden verwehrt bleibt und dass andererseits jeder Gedanke an eine Creatio ex nihilo in den Bereich der Mythen zu verweisen ist, sodass ein entsprechendes Streben immer auf der halben Höhe des Demiurgischen stehen bleiben muss, auf der Ebene jenes Schöpfergottes der Antike und der Gnosis also, der nicht die Position des obersten Prinzips einnimmt, sondern wie ein Handwerker die Welt aus vorhandenem Material formt. Unter diesen einschränkenden Voraussetzungen ist menschliche Erfahrung mit Ausnahme von Randbereichen und Grenzzonen, in welchen noch Reste einer ursprünglichen zustandsbestimmten Unvermitteltheit ohne reflektiert-reflektierende Erlebnisqualität und ohne wirkliche Erinnerbarkeit fassbar sind, an vermittelnde Instanzen gebunden. Als Agenturen von Kultur und Zivilisation gleichen sie jenen Natur- und Instinktverlust aus, den der aufgrund seiner verfrühten Geburt als Mängelwesen zu betrachtende Mensch als seine Bedingung auf sich zu nehmen hat. Zur Meisterung des Lebens mit allen seinen Nöten auf die Macht der Verlautbarung angewiesen, richten wir uns an unseren „Nebenmenschen“ (Sigmund Freud) auf, sodass von vornherein das Individuelle und das Soziale untrennbar miteinander verbunden sind. In diesem Sinn hat auch Aristoteles vom Menschen als einem Zoon politikon gesprochen, dem als Animal symbolicum (Ernst Cassirer) die „Lesbarkeit der Welt“ (Hans Blumenberg) zur unabdingbaren Voraussetzung zu deren Verständnis gegeben ist. Entsprechend einer medientheoretischen Perspektive, in der sich Positionen der Linguistik, der Semiotik und der Psychoanalyse gegenseitig ergänzen und erhellen, gehören die Repräsentanzen, mittels welcher wir sowohl uns selbst bzw. unsere Innenwelt als auch unsere Umwelt erfassen und begreifen, zwei voneinander zu unterscheidenden Ordnungen an: der Ordnung des Sprachlich-Symbolischen und der Ordnung des Imaginären.

Was bei den Repräsentationsvorgängen vom Repräsentierten übrig bleibt bzw. was der Repräsentation überhaupt entgeht, ist dann eben jener Rest an Unvermitteltheit, den man auch als das Reale bezeichnet. Das Element des Imaginären ist das Bild im Sinne einer Imago, wobei das mit dem Bildbegriff hauptsächlich assoziierte visuelle Bild nur einen Sonderfall in dieser Kategorie des Imaginären darstellt. Ihre signifizierende Kraft und ihre Funktion als Bedeutungsträger erhält die Imago in den verschiedenen Sinnesmodalitäten aufgrund einer äußeren und sinnlich erfassbaren Ähnlichkeit mit dem Referenten, den sie darstellen soll. Wesentlich ist demnach eine Punkt-für-Punkt-Entsprechung zwischen dem Repräsentierten und dem Repräsentanten. Ein Fingerabdruck oder das Phonogramm einer menschlichen Stimme stellt in dieser Hinsicht einen ebenso bedeutsamen imaginären Repräsentanten des Individuums dar wie seine fotografische Reproduktion oder seine Abbildung im Spiegel. Was Letzteres anbelangt, treffen wir hier insofern auf eine privilegierte Imago, als sie im Regelfall dem Menschenkind zu einer ersten Ich-Identität verhilft. Denn es darf der Unfertigkeit des Säuglings entsprechend angenommen werden, dass ein Ich im Sinne eines abgegrenzten körperhaften Selbst und eines Selbstbewusstseins nicht von Geburt an besteht, sondern sich erst in einem dialektischen Prozess, in dem Innenwelt und Umwelt voneinander geschieden werden müssen, entwickelt. Dabei konstituiert sich in einer imaginären Bewegung ein primitives Ich durch Identifizierung mit dem Bild des Ähnlichen als einer Gesamtgestalt, konkret erfahren in der Wahrnehmung des eigenen Bildes im Spiegel. Dieser grundlegende Identifikationsprozess ermöglicht dem Individuum einen Vorgriff auf die Wahrnehmung seines Körpers als einer Einheit, bevor ihm die abgeschlossene Reifung seiner Motorik eine derartige individuelle Stütze geben würde. Diesem Ich als Selbstbild steht wiederum ein Subjekt gegenüber, das sich einer Dialektik der Identifikation mit dem Anderen durch Vermittlung der Sprache verdankt.

Mit dieser Kategorie eröffnet sich das Feld des Symbolischen, dessen Repräsentationselemente Signifikant und Buchstabe durch Differenz und Arbitrarität gegenüber dem Repräsentierten charakterisiert sind. Das Merkmal eines phonetischen oder buchstäblichen Signifikanten besteht also darin, keine Ähnlichkeit mit dem zu Bezeichnenden zu besitzen. Diese Arbitrarität gegenüber dem Repräsentierten bewirkt auch, dass der Signifikant seine Identität nicht vom Bezeichneten her erhält, sondern nur durch seine Differenz gegenüber den anderen Elementen in der signifikanten Kette. Um etwas bezeichnen zu können, muss sich ein Signifikant von einem anderen Signifikanten unterscheiden, er lebt von seiner differenziellen Verweisung, also vom Unterschied und nicht von der Identität. Jedem nominalistischen Konzept entgegengesetzt, trägt ein solches Symbol unbewusst immer die anderen Symbole mit sich, begehrt es die anderen Symbole zu seiner Bestätigung, wodurch auch das Subjekt, sobald es aktiv in die Sprache eintritt, ein begehrendes Subjekt wird.

In Bezug auf das Imaginäre ist zu bedenken, dass dem augenscheinlichen Primat des Optischen und der offensichtlichen Vorrangigkeit des Visuellen eine eindeutige Vorgängigkeit des Akustischen gegenüberzustellen ist. Denn in der Entwicklung des Subjekts und in seiner Naturgeschichte der Sinne geht das Universum des Hörbaren der Welt des Sichtbaren eindeutig voraus, wenngleich die offenbar größere Gier des Auges und die stärkere Überzeugungskraft seiner Bilder die von Immaterialität und Intensität bestimmten Hörbilder stets in den Hintergrund zu drängen trachten. Dies zeigt sich auch in den verschiedenen Tradierungen des Narziss-Mythos, welcher, der Ödipus-Geschichte vorausgehend, den Ursprung des menschlichen Selbstbezugs und die Konstituierung des Ich durch Spiegelphänomene illustriert. Dabei wird oft das Schicksal der der Sage ebenfalls zugehörigen Nymphe Echo, welche für die subjektbildenden Spiegelwirkungen auf akustischer bzw. sprachlicher Ebene einsteht, unterschlagen.

Dabei ist es gerade der hauptsächlich von der Stimme getragene Diskurs, welcher die Neigung jenes Spiegels bestimmt, der uns einen Ausschnitt aus der Unendlichkeit des Sichtbaren liefert, indem er sagt, was zu sehen ist, und damit der Intentionalität des Sehens als Schauen die Richtung vorgibt. Damit wird der Sprache und ihrer Ordnung eine organisierende Funktion gegenüber der reinen unvermittelten Dingwelt eingeräumt, was darauf hinausläuft, dass die Ordnung der Wörter der Ordnung der Dinge vorausgeht und dass es die Sprache ist, welche erst Bilder und Objekte erzeugt.

Um dies zu veranschaulichen, sei auf eine Modellvorstellung verwiesen, deren sich auch der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan bedient hat, um zu zeigen, dass sich nicht nur das Ich als Körper-Ich durch Spiegelungseffekte, das heißt durch die Gestalt des Anderen in der Außenwelt, herausbildet, sondern dass der Mensch auch das Andere als das von ihm abgegrenzte Ambiente als etwas Gespiegeltes erfasst und erlernt. Dabei handelt es sich um ein optisches Experiment des französischen Physikers Henri Bouasse (1866–1953), das als das „Experiment mit dem umgekehrten Blumenstrauß“ bekannt geworden ist. Die Anordnung besteht darin, dass vor einem Konkavspiegel eine Vase aufgestellt ist, wobei das Pult, auf dem sie steht, einen nach unten hängenden Blumenstrauß verbirgt (→ Abb. 1). Steht man vor diesem Pult und betrachtet man das durch den Hohlspiegel erzeugte Bild, so sieht man eine mit Blumen gefüllte Vase, die sich aus dem realen Gegenstand Vase und dem virtuellen aufrechten Spiegelbild der Blumen zusammensetzt (→ Abb. 2). Für den hier interessierenden Sachverhalt sei zunächst die Anordnung von Vase und Blumenstrauß so umgedreht, dass der Blumenstrauß real und die Vase nur virtuell, das heißt gespiegelt sichtbar ist (→ Abb. 3). Das Pult soll nun den eigenen Körper außerhalb der Erfahrungswelt des Auges darstellen, die Vase im Inneren der Kiste sei die Hülle des Körpers. Der Blumenstrauß steht für das erste Reale des Körpers, also das „Es“, die Protoobjekte im Sinne der Ding-Erfahrung, die Triebe und Begierden etc. Festgestellt wird von dem in Entstehung begriffenen Subjekt offensichtlich nur die reine Erfahrung eines „es ist“ im Sinne eines Existenzurteils. Was da ist, ist demnach nicht eingegrenzt und situiert sich sowohl jenseits von Innen und Außen als auch jenseits von Gut und B.se (das hei.t jenseits von Lust und Unlust). Durch das virtuelle Bild eines Behälters (in der Modellvorstellung die Vase) stellt sich für das Subjekt ein erstes Körperbild her und liefert die Erfahrung eines realen Inhalts in einem imaginären Behälter. Damit wird bestimmt, was zum Ich gehört und was nicht (was wiederum einerseits durch die Frage bedingt ist, ob etwas im Ich als Vorstellung Vorhandenes auch als Wahrnehmung, das heißt als Realität, existiert, andererseits durch die Neigung, das Gute im Inneren zu behalten und das Böse nach außen zu projizieren).

In Abbildung 4 (→) sieht man eine weitere Modifizierung des Experiments durch Lacan, womit demonstriert werden soll, wie sich die intrasubjektiven Strukturen der Beziehung zum Anderen herausbilden, wie durch Spiegeleffekte das Ding zum bildhaften Objekt wird und wie dabei der doppelte Einfall des Imaginären und des Symbolischen zum Tragen kommt. Das Auge nimmt bei der neuen Anordnungdas Hohlspiegelphänomen nicht direkt wahr, sondern nur durch das Reflexbild eines vor dem Pult (C) aufgestellten Planspiegels (A). Hier können die realen Blumen als reale Wahrnehmung in ihrem virtuellen Behälter nicht mehr als solche erfasst werden. Nur als Bild, nur als virtuelle Realität, das heißt nur im Außen und im Bereich des Anderen, können beide in ihrer gleichzeitigen Einheit gesehen werden.

Das Körperbild präsentiert sich also in einem Dispositiv des Spiegels, was die narzisstische Struktur des durch die fehlende Eindeutigkeit entfremdeten Ich bedingt. Links hat das Körperbild keinen eigenen Ort in der Struktur, es ist als Form nicht integriert, rechts gibt es das Körperbild nur als ein Anderes in einem virtuellen Raum. Ich kann mich selbst nur begreifen, wenn ich mein Ideal-Ich im Anderen sehe und mich mit ihm identifiziere.

Dabei kommt eine Logik zum Tragen, wonach das Gleiche auch dasselbe ist. Die imaginäre Identifizierung geht aus einem Transitivismus hervor, indem ich sowohl dort als auch da, also ein gespaltenes Subjekt bin. Als mein Selbstbild erscheine ich im imaginären Raum.

Allerdings geht das Schema über diese reine Identifizierung hinaus, da es auch auf die Abhängigkeit dieser imaginären Bestimmung des Bildes von den symbolischen Koordinaten verweist. Dies wird durch die Einführung des Planspiegels (A) veranschaulicht, der in gewisser Weise die Stimme des Anderen mit seinen Botschaften und Verlautbarungen verkörpert. Der Ort des Anderen ist im Modell der reale Raum, der von den virtuellen Bildern hinter dem Planspiegel (A) überlagert wird.

Die Spiegelbeziehung ist an die symbolischen Koordinatengebunden, bevor sie noch als solche existiert. Denn die Sprache geht der Spiegelbeziehung voraus, indem das Kind für einen Anderen existiert, bevores noch für sich, in sich und durch sich existiert. Von diesem Anderen erhält das Kind die Bestätigung für das Erkennen eines Bildes, das schon vor ihm da war, weshalb sich das Kind vor dem Spiegel zu dem umdreht, der es vor den Spiegel hält. Von daher erhält das Bild seine Konsistenz. Wenn diese Anerkennung vom Anderen aber ausbleibt, bricht das Bild in seine Komponenten auseinander. Was für den Körper und für sein Bild als seine Erfahrungsbedingung gilt, gilt auch für alle uns umgebenden Objekte. Nur in repräsentierter Form, eingefangen durch Bilder und Zeichen, können sie realitätsbildend funktionieren und aus ihrem Dingzustand und aus der Sphäre des Realen heraus führen. Die Begegnung mit dieser bedeutungslosen Zustandswelt ist untrennbar mit Angst verbunden, weil sie mit einer Überflutung triebhaften Genießens einhergeht. Dies wäre im Modell dann der Fall, wenn man den Blumenstrauß ungespiegelt-unrepräsentiert im linken Raum wahrnehmen würde. Er hätte in der Realität keinen Halt mehr und würde auch seine imaginäre Fassung im Sinne der nur gespiegelt wahrnehmbaren Vase verlieren. Gerade aber diese Verbindung des Gegenstandes mit seinem mentalen Container führt zusammen mit der symbolischen Signifizierung durch den Anderen (im Sinne einer sprachlichen Bestätigung der Erfahrung) zu einer innigen Verbindung der drei Register real, symbolisch und imaginär und eröffnet damit den Weg zur Realität.

Offensichtlich liegt es an der Verknüpfung der drei Register im Wahrnehmungsvorgang, dass das Wahrgenommene ein Realitätszeichen erhält, sodass ein spontanes Wiedererkennen möglich wird. Unter der Bedingung dieser Wiedererkennung bzw. Anerkennung wird etwas unmittelbar als etwas Bekanntes erkannt und muss nicht ständig mühsam entziffert werden, wie dies beispielsweise bezüglich der Buchstaben beim Erlernen einer Schrift erforderlich ist.

Wenn wir von hier aus wieder den Bogen zu Wakolbingers fotografischen Placement-Arbeiten schlagen, sei daran erinnert, dass wir den in die sekundäre, das heißt realitätsbezogene Bildwelt eingeschobenen Gebilden Dingcharakter zugeschrieben haben, wobei dessen grundsätzliche Bedrohlichkeit durch künstlerische Sublimierung und Idealisierungsarbeit neutralisiert und in etwas eher Beruhigendes und Gezähmtes umgewandelt erscheint. Wie bereits festgestellt wurde, fungiert auf der visuellen Ebene und im Feld des Sichtbaren jenes Ur-Objekt des Schautriebes als Ding, das weder ein sexualisierter Gegenstand noch ein verhüllter oder unverhüllter materieller Körperteil ist, sondern ein Teil des Auges selbst, der uns vom Ort des Anderen her stets begleitet und kontrolliert und den wir mit einem imaginierten Blick identifizieren müssen. In diesem Sinn, so Lacan, hängt irgendwo im Raum immer ein Auge herum, sodass wir in jedem Augenblick des Lebens buchstäblich fotografiert werden.

Das Sichtbare ist also abhängig von etwas, das vor unserem sehenden Auge ist, es ist abhängig von der Präexistenz eines Blicks, von dem wir uns – im Allgemeinen unbewusst – von überall her erfasst fühlen, von einer substanzlosen und immateriellen Instanz, die sich letztlich nur auf ein Punktförmiges oder Fleckförmiges reduzieren lässt. In der Tat ist, phylogenetisch betrachtet, das Auge aus einem lichtempfindlichen Hautfleck hervorgegangen, sodass dem Fleckhaften immer auch etwas Augenartiges anhaftet. Und Lacan sieht in dieser Fleck-Funktion, die auch wesensgleich mit der Blick-Funktion ist, nicht nur die Grundlage der Mimikry sowie jener menschlichen Täuschungsmanöver, wie sie uns in Tarnung, Maskerade und Einschüchterung begegnen, sondern auch eine der Grundlagen der bildenden Kunst überhaupt. Denn was das unter der Lust des Auges stehende Subjekt im Kunstwerk hauptsächlich zu sehen begehrt, bezieht sich auf ein Jenseits des unmittelbar Sichtbaren und letztlich auf das Faszinosum des Blicks, der den Betrachter gleichzeitig in einen Betrachteten verwandelt und damit seinem Narzissmus entgegenkommt.

Sofern nicht schon das Spielen mit Licht und Glanz das gezähmte Blickhafte im Bild deponiert und sofern sich nicht auch ohne bewusste Intention in jedem Kunstwerk etwas Fleckförmiges mit stärker destruktiver Blickfunktion nachweisen lässt, haben sich Künstler schon immer darum bemüht, auch auf spezifischere Art und Weise den Blick zur Anschauung zu bringen, sei es in Form eines anamorphotisch verzerrten Totenschädels wie bei den Gesandten Holbeins oder durch die Funktion der Maske wie bei Goya. Dieser Blick ist zwar kein gesehener Blick, aber doch ein Blick, den man auf dem Feld des Anderen imaginiert. Als ein solcher gemahnt er uns an die grundsätzliche Bösartigkeit des Auges, das aufgrund seiner triebhaft fundierten Einverleibungstendenzen ein gewalttätiges und gefräßiges Organ ist.

Die roboterhaften und wie mutierte Saurier anmutenden Blickwesen Wakolbingers, die sich der Virtualität des fotografierten Realitätsraums als Platzhalter der realen Dingsphäre entgegenstellen (und diesbezüglich den Platz des ungespiegelten Blumenstraußes in unserer Modellvorstellung einnehmen), scheinen dem gegenüber mit staunender Neugier und weniger bedrohlich eine Welt zu erkunden, in der Körperlandschaften und Landschaftskörper ineinander übergehen und dabei den anthropomorphen bzw. egomorphen Ursprung aller Umwelt- und Objekterfahrungen offenbaren. In dem Maße, wie alles sichtbare Gegenständliche unbewusst die ersten Körpererfahrungen in sich trägt, ist der menschliche Körper ein Produkt der jeweiligen Zivilisation. Auch wenn man die Natur des Menschen in seiner Nacktheit zu ergründen trachtet, trifft man letzten Endes doch nur auf Nacktkultur. Möglicherweise sehen unsere artifiziellen Genossen in den Nudistenversammlungen auch etwas von der grundsätzlichen Lächerlichkeit, die den Menschen in ihrer Nacktheit stets anhaftet.