Christoph Ransmayr – Die Schönheit der Finsternis
Texte

Ich sah eine Spiralgalaxis im Sternbild Haar der Berenike einem unscheinbaren Himmelsareal, das im dritten vorchristlichen Jahrhundert vom griechischen Astronomen Konon von Samos nach einer Pharaonin benannt worden war: Berenike hatte gelobt, ihr goldschimmerndes Haar zu opfern, wenn ihr Gemahl unversehrt aus seinem Krieg gegen die Assyrer zurückkehren würde. Der Pharao kehrte als Sieger heim, und Berenike legte die Strähnen ihres abgeschnittenen Haares einer Statue der Göttin der Liebe zu Füßen. Als die Opfergabe über Nacht verschwand, zeigte der griechische Hofastronom dem wütenden Pharao, der an einen Diebstahl glaubte, drei Sterne am Himmel der folgenden Nacht und sagte, die Göttin Aphrodite habe das Opfer seiner Gemahlin angenommen, das geopferte Goldhaar in diese Sterne verwandelt und an den Himmel gehängt.
Der schwache, aus dem Licht von Abermilliarden Sonnen bestehende Glanz der Spiralgalaxis im Haar der Berenike brauchte nach letzten, noch umstrittenen, astronomischen Messungen vierundvierzig Millionen Jahre, um aus der Tiefe des Raumes auf die Spiegel meines Teleskops zu treffen. Im Okular erschien ihre Ellipse wie ein leuchtendes, von einem dunklen Lid verhängtes Auge, das sich eben zu öffnen – oder zu schließen schien. Allein die Länge dieses Augenlids, eines sichelförmigen Bandes aus dunkler Materie, Gasschleiern und Sternenstaub, sollte mehr als fünftausend Lichtjahre betragen: auch dieses Maß galt als umstritten. Ich fluchte.
Ich saß in dieser Nacht der Sommersonnenwende auf einer weiten Lichtung des Hochwaldes am Rand des oberösterreichischen Höllengebirges unter einem mondlosen, von Sternen übersäten Himmel hinter meinen Teleskopen und fluchte so laut, da. die Verwünschungen von einer Mauer schwarzer Bergfichten zurückschlugen, die wie Scherenschnitte vor dem Band der Milchstraße erschienen. Von den Kühen, die als schwarze Inseln in der kaum helleren Weite der Almwiesen wiederkäuend lagen oder schliefen, war in der nächtlichen Stille nur ein gelegentliches tiefes Seufzen zu hören.
Es hatte durch atmosphärische Turbulenzen und den Ausfall eines Navigationssystems an meinem astronomischen Gerät eine Weile gedauert, bis ich die Linsen und Spiegel meiner beiden Teleskope, mit Sucherfernrohren von Richtstern zu Richtstern gleitend, nach den Koordinaten dieser fernen Galaxis ausgerichtet hatte, die in verschiedenen Sternkatalogen so bildhafte Namen trug wie Black Eye Galaxy, Evil Eye Galaxy oder Sleeping Beauty – Blaues Auge, Teufelsauge, Schlafende Schönheit …
Drei Astronomen des späten achtzehnten Jahrhunderts, der Engländer Edward Pigott, der Deutsche Johann Elert Bode und der Franzose Charles Messier hatten diese Schönheit innerhalb eines Jahres unabhängig voneinander in der Tiefe eines nahezu leeren Raumes beobachtet, aber nur Messier hatte sie mit dem ersten Buchstaben seines Namens und einer fortlaufenden Nummer aus der langen Reihe aller von ihm entdeckten Himmelsnebel und Galaxien getauft: M64.
Bei Anbruch der astronomischen Dämmerung zur kürzesten Nacht des Jahres hatte ich meine Fernrohre – ein zentnerschweres Schmidt-Cassegrain-Spiegelteleskop und einen kaum leichteren apochromatischen Refraktor – auf einer erschütterungsfreien, gemauerten Plattform neben einer Almhütte aufgebaut und sie vor der Neugier des Weideviehs mit einem Drahtzaun geschützt. Ich wollte den Himmel der Sommersonnenwende durchstreifen, bis der Mond aufging, um dann in seinem hohen Norden das Meer der Kälte und an dessen Ostufer die Krater Atlas und Herkules zu besuchen. Ich hatte in dieser milden Sommernacht bereits die Areale des Skorpions und des Schlangenträgers und dort Doppelsterne, Kugelsternhaufen und planetarische Nebel angesteuert und war dabei allmählich und einmal mehr in Wut darüber geraten, dass eine Seilbahnstation auf einem gegenüberliegenden Bergkamm von einer Scheinwerferbatterie in gleißendes Licht getaucht wurde. Das Streulicht dieser Scheinwerfer ließ lichtschwache Himmelsobjekte und Hunderte, Lichtjahrmillionen entfernte Riesensonnen, die ansonsten wie Brillanten im Samtschwarz des Raumes glitzerten, stumpf werden und verblassen.
Als ich mich entschloß, die lichtverseuchten Areale zu verlassen und in Sternregionen hoch im Südwesten auszuweichen, mußte ich allerdings auch dort feststellen, selbst M64, eine der zwölf hellsten Galaxien am Firmament, im Streulicht der Bergstation viel, fast alles, von ihrem Glanz verlor. In einer makellos schwarzen Nacht war mit den leistungsstärksten Teleskopen der Astronomie im Areal der Berenike eine der ungeheuerlichsten Zusammenballungen von Sternsystemen des sichtbaren Universums zu entdecken – mehr als eintausend, bis zu vierhundertfünfzig Millionen Lichtjahre entfernte Galaxien –, aber der Scheinwerfer einer einzigen, menschenleeren Bergstation brachte sie mit seiner Blendkraft allesamt zum Verschwinden. Ich wünschte fluchend, dieses Licht würde unter einem Bergsturz, einer Steinlawine oder unter einem Kometeneinschlag erlöschen.
Aber als die Lichtquelle plötzlich tatsächlich versiegte, erschrak ich beinahe. Wer will schließlich, dass seine Verwünschungen und Flüche augenblicklich in Erfüllung gehen? Die plötzliche Finsternis war in manchen Nächten ein unverhofftes Geschenk nach Stromausfällen und Blitzschlägen gewesen. Aber diese Nacht war windstill, mild, sternenklar – und nun von einer makellosen Dunkelheit. So langsam sich meine Augen an die geänderten Lichtverhältnisse auch gewöhnten – schon in den ersten Minuten nach dem Ende der Lichtvergiftung war zu sehen, wie die Zahl der Sterne wuchs. Und als ich den verbesserten Verhältnissen entsprechend vom Spiegelteleskop zum apochromatischen Linsenteleskop wechselte, bot sich auch im Areal der Berenike ein dramatisch verändertes Bild: Das Augenlid der Galaxis M64 schien sich geöffnet zu haben, ihr Kernbereich schimmerte nun nicht mehr bloß, sondern erstrahlte.
Nach Messungen der Rotverschiebung im Spektrum dieses Lichts hatten Astronomen die Frage diskutiert, ob die Schlafende Schönheit nicht durch eine kosmische Kollision von mindestens zwei Galaxien entstanden war, denn ihre inneren und äußeren Bereiche rotierten mit hoher Geschwindigkeit in entgegengesetzten Drehrichtungen. Dort, wo die beiden gegenläufigen Rotationen in chaotischen Wirbeln aneinanderstießen, hieß es, konnten neue, ultraheiße Sonnen zu Hunderttausenden entstehen und dazu – als kosmischer Abfall solcher Sterngeburten Asteroidenschwärme, Planetensysteme, kühlere Orte, an denen sich Phantasien über ein Leben in fernsten Räumen entzünden durften. Aber jetzt, kaum aufgeschlagen, verschwand dieses Auge wieder. Ich sah die Black Eye Galaxy, die sich eben noch in ihrer vollen Schönheit gezeigt hatte, in meinem Okular erlöschen. Die gesamte Galaxis verschwand in einer jähen, wogenden Finsternis. Nur am Rand meines Blickfeldes blinkten noch einzelne lichtschwache Funken und ließen den Eindruck entstehen, diese Schwärze, eine flatternde, alles Licht verschlingende Nacht, auf mich zuraste. Doch als ich meinen Blick vom Okular löste und mit bloßem Auge zum Himmel aufsah, standen Jungfrau, Bärenhüter, Löwe und Jagdhunde – dem Haar der Berenike benachbarte Sternbilder – ruhig an einem friedlichen Himmel; in den Bergfichten regte sich kein Hauch, und selbst die schlafenden Kühe seufzten nicht mehr. Die kosmische Katastrophe tobte allein im Okular meines Refraktors und verschlang Lichtjahr um Lichtjahr des sternenbesetzten Raums … Und plötzlich hörte ich auch, wie der Weltenuntergang klang: Es war der Schrei eines Vogels. Ein Waldkauz. Er hatte in seinem lautlosen Pirschflug wohl genau entlang der Ausrichtung meiner Teleskope seine Beute gesucht oder verfolgt und war dabei von den Linsen in ein konturloses, sternfressendes Monster verwandelt worden, von dem aber mit freiem Auge ebensowenig zu sehen war wie von einer fernen Galaxis. War das Erleichterung, was ich empfand?
Mich fror. Über den südöstlichen Höhenzügen des Höllengebirges begann der Mond hochzusteigen, der gute Mond, der größte Sternenfresser, der meinen intergalaktischen Streifzug beschließen würde. Nach einem raschen Aufstieg stand seine Sichel über den Graten des Gebirges wie eine Lampe am Bett eines Kindes, das böse geträumt hat – ein trautes Nachtlicht, in dessen beruhigendem, tröstlichem Schein alle Schrecken und alle Gespenster, aber auch alle Schönheiten der Finsternis verblaßten.

Die Schönheit der Finsternis, erschienen im Buch: Christoph Ransmayr, Atlas eines ängstlichen Mannes,
S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2012