David Espinosa — Von der Einfachheit des Wunderbaren - 2004
Texte

Sieben Zehntel der Erdoberfläche sind von Wasser bedeckt – ein entmutigender Gedanke, der noch überwältigender wird, wenn man in Betracht zieht, was Wissenschaftler mutmaßen: dass die Erforschung der Seen und Flüsse, Ozeane und Meere gerade erst die Oberfläche unseres Planeten angekratzt hat.

Wir wissen so wenig und doch wissen wir bereits so viel. Das mag verwirrend klingen, aber vergessen wir nicht, dass jedes Jahr Hunderttausende von Tauchern ausgebildet werden, eben weil wir wissen, dass die Unterwasserwelt etwas absolut Besonderes ist.

Jeden Tag tauchen sie in diese exotischen Wunderreiche hinunter, auf den Fidschi-Inseln, Galapagos oder Bali. Sie suchen Inspiration – und finden sie auch zumeist. Sie sehen Buckelwale so groß wie Autobusse und winzige Skelettgarnelen, die auf leuchtend farbigen Fächerkorallen anmutig zu tanzen scheinen. Manchmal trauen wir unseren Augen kaum, wenn wir den anmutigen Mantas, die in der Meeresströmung vorbeiziehen, voll Ehrfurcht nachstarren, oder angesichts der Stärke des (irrtümlich) in Verruf geratenen großen Weißen Hais oder der Schönheit von etwas so Gewöhnlichem wie dem Anglerfisch.

Für sein Buch “Bottomtime” hat Manfred Wakolbinger Bilder von einigen der exotischsten Orte der Welt ausgewählt – Orten mit fremd klingenden Namen wie Kimbe Bay (Papua-Neuguinea), Alor (Indonesien), Ari Atoll (Malediven) und Chuuk (Mikronesien). An diesen abgelegenen Plätzen suchen Taucher die einzigartigen Meereslandschaften, die Begegnungen mit Großfischen und seltsamen Lebewesen – kurz gesagt, sie suchen Inspiration.

Einer der interessantesten Orte ist eine kleine Inselgruppe östlich von Bali (Indonesien), eine urzeitliche Gegend, mit starken Strömungen und Dinosauriern. Als Ziel für Taucher ist Komodo durchaus bekannt, Aber es gibt Zeiten, in denen die Isolierung beinahe unvorstellbar erscheint. Der bekannteste Taucher Indonesiens, der unvergleichliche Larry Smith, hat immer wieder gesagt: “(Komodo) ist nicht das Ende der Welt, aber ganz gewiss kann man es von dort aus sehen.”

Zum ersten Mal traf ich Manfred und seine Frau Anna 1997, als ich auf einem kleinen Phinisi-Tauchschiff in Komodo arbeitete. Sie waren ruhige, unaufdringliche Gäste, die wenig Aufhebens von ihrem Elan machten, hinter dem sich ihre Wanderlust verbarg. Sie hatten das geschäftige, historische Wien hinter sich gelassen, auf der Suche nach dem Abenteuer und mit der Gewissheit, dass sie es an diesem vielversprechendsten aller Orte, in der prähistorischen Landschaft, finden würden. Dies mag manchen merkwürdig erscheinen, aber so stark wirkt die Anziehungskraft des Tauchens.

Flaubert schrieb einmal: “Reisen macht bescheiden, man erkennt, was für einen winzigen Platz man in der Welt einnimmt.” Er hätte statt “Reisen” auch “Tauchen” schreiben können. Denn es gibt in dieser anderen Welt aktive Unterwasservulkane, ausgedehnte Salzseen mehrere Kilometer tief unter der Oberfläche des Pazifischen Ozeans und gewaltige Felszüge, die die Rockies in Colorado zwergenhaft erscheinen lassen. Diese Orte würden Nicht-Tauchern außerirdisch vorkommen, aber einen großen Teil seiner Inspiration findet der Taucher gerade in der Suche nach Plätzen wie diesen.

1999 führten Larry Smith und ich eine Gruppe von Tauchern in Alor in Ost-Indonesien. Obgleich noch abgelegener als Komodo, gab es in dieser Gegend bereits Dutzende von bekannten Tauchstellen. Unglücklicherweise waren einige der besten Tauchplätze, gerade weil sie so abgelegen sind, bereits leer gefischt.

Eine Stelle hatte sich als besonders ergiebig für die Hochseefischer erwiesen, Kal’s Dream, eine Felsnadel, die, zwei Kilometer vom Ufer entfernt, aus stygischem Dunkel aufragt. Jahrelang hatte ich immer wieder gestaunt über die unzähligen Fische, die in Scharen zu diesem kleinen Felsen, der bis wenige Meter an den Meeresspiegel heranreicht, kamen.

Es war ein ganz besonderes Gebiet für Taucher, mit oft überaus starken Strömungen, was bedeutete, dass “der Traum”, wie dieser Ort genannt wird, nur bei Gezeitenwechsel betaucht werden konnte. Aber trotz der möglichen Gefahr tauchte man im “Traum”, denn es gab immer riesige Schwärme umherschießender Barracudas, Makrelen, die so fett waren, dass sie einem die Sicht nahmen, VW-Bus-große Barsche und Haie – viele, viele Haie.

Wie es leider häufig bei so entlegenen Orten der Fall ist, wurde Kal’s Dream das Ziel und das Opfer von Schleppnetzfischern aus Taiwan und anderswoher. Die Bewohner der umliegenden Dörfer konnten nur hilflos zusehen, wie diese hochgerüsteten Schiffe vor Alor zuerst den großen Thunfisch, dann die Makrelen und am Ende die Haie in wenigen Jahren methodisch ausrotteten. Auf dieser Reise wurde Kal’s Dream ein Reinfall …

Aber Smith, dem der Ruf vorausgeht, eine Nase für Abenteuer zu haben, gab nicht auf und ergriff jede Gelegenheit, um neue “Träume” zu entdecken. Und mit Hilfe einer Gruppe von Tauchern – unter ihnen Manfred und Anna – fand er ihn am scheinbar ungeeignetsten Ort.

An einem Nachmittag fuhr das Boot in den langen Naturhafen von West Alor hinein und ankerte am Kopf einer kleinen aufgegebenen Tankpier. Smiths scharfes Auge hatte schwarzen Sand entdeckt, und das brachte ihn auf die Spur. Er war auf der Suche nach Critters, ein Kosename für kleine Fische, die so aussehen, wie man es sich nicht träumen lassen würde. Und er wusste, dass Critters schwarzen Sand mögen. So ließ er sich mit der kleinen Gruppe abenteuerlustiger Taucher in das Wasser hinunter, das an dieser Stelle nicht tiefer als ein paar Meter war.

Gegen alle Erwartung fanden wir uns in einem Tauchernirwana wieder. Wo wir uns auch hinwandten, wir sahen Seltsames, Bizarres, wahrhaft Unglaubliches: Oktopusse, die Form, Aussehen und Verhalten anderer Meeresorganismen nachahmen (zu Recht tragen sie den Namen Mimic Octopus), die seltsam aussehenden Pegasus Seemotten, den exotisch bunten Anglerfisch, sonderbare Fische, die sich in den Sand eingruben, Tintenfische, die blau und purpurn, gelb und golden glühten, Seepferdchen, die sich in der Strömung wiegten, und Geisterpfeifenfische, die wie Gras, Wurzeln oder tote Blätter, zwischen denen sie lebten, aussahen. Die Harlekingarnelen, die auch in diesem Buch zu sehen sind, wurden bei demselben Tauchgang gefunden. Der Ort aber, wo wir all dies gesehen haben, erlangte in der Taucherwelt einen legendären Ruf.

Der Ozean bietet denen, die seine übernatürliche Schönheit wahrnehmen und deuten können, unendlich viele Möglichkeiten. Es gibt Myriaden verschiedener Farben, Kontraste, Formen und Tiefen. Aber manchmal bedarf es eines Künstlers, die Schönheit auch in den einfachsten Dingen sichtbar zu machen.

Ich weiß immer noch nicht genau, welche von Manfreds Leidenschaften die andere angeregt hat: war es seine Liebe zur Bildhauerei, die seine Unterwasserfotografie inspiriert hat, oder war es umgekehrt? Wie dem auch sei, Manfred hat das Auge eines Künstlers, der Ozean ist eine Leinwand ohne Anfang und Ende, und wir haben das Privileg verfolgen zu dürfen, wie er das, was er sieht, umsetzt.

Als Redakteur eines Tauchermagazins sehe ich jede Woche Hunderte von wundervollen Fotografien auf meinem Schreibtisch. Manfred Wakolbinger aber ist ein Unterwasserfotograf, der jeden – Taucher wie Nicht-Taucher gleichermaßen – um so viel näher an die Geheimnisse der Tiefe heranbringt. Und er tut es mit einem unfehlbaren Gespür, denn er ist ein Künstler, der einen unvergleichlichen Sinn für alles Lebendige hat. Er sieht die Fische und die Korallen und die großen Meeressäuger mit einem anderen Auge als wir und er vermittelt uns in seinen Bildern seine “Vision”.