Elisabeth Schlebrügge — Meeresspiegel - 2004
Texte

Ob man je vom Meer genug haben kann; gesättigt, Vorrat eines Sommers, der für das ganze Jahr reichen muss. Tage auf den Steinen, salzverkrustet, nachts Bilder bei geschlossenen Augen, das Meer, das in die schmalen Ritzen und Rinnen drängt; Meerestomaten, kompakte Kugelform, brandrot, oder ausgeklapptes Flammenbouquet, Seepocken, versteckte Krebse, Purpurschnecken, über den bewachsenen Felsen mäandernd, “Krebs auf dem Felsen”, hast du gerufen, im Schlaf. Körpererinnerung, wie man bei heftigem Seegang wieder an Land gelangt, die notwendigen Gewichtsverlagerungen unter Wasser, die Augen aufgerissen, die dunklen Flecken, unscharfe Umrisse, die Seeigel vermeidend, wo die Hände und die Füße aufgesetzt, um sicher bei Brandung auf dem Felsen zu landen.

Was das Meer schreibt: eine unablässige Grenzziehung, Markierung seines Herrschaftsbereichs in der feinen Zackenlinie, niemals überlappend, heller und dunkler; Muschelsplitter, Tangbüschel, Tintenfischschulpen, Erinnerungsspur der anschlagenden Brandung.

Das Meer mit dem ungewissen Geschlecht, the sea, la mer, il mare, el mar, und nichts sonst, was zugleich das Immergleiche ist, und das, was sich niemals wiederholt; nichts, was gleichzeitig im selben Ausmaß von Universalität und subjektiver Erfahrung geprägt ist. Das Meer, der glatte Spiegel, die rauhe See, meditative Projektionsfläche oder physische Herausforderung, und das sich Hineinbegeben, das Durchschlagen der Oberfläche, das Eintauchen begleitet von Bildern sowohl des Zerschellens und Untergehens als auch des Umfangen- und Geborgenseins.

Und welch verschiedene Wirklichkeiten, als würde es sich, je nach dem Aspekt des Gebrauchs, um völlig anderes handeln, ein anderes Meer, das “Meer von der Küste aus gesehen” (Michelet), und, auf hoher See und in Annäherung daran, das Land vom Meer aus betrachtet, nie deckungsgleich ineinanderpassend; das Oberflächengekräusel und Windgekritzel oder der Abstieg in die Tiefe. Und wie sich zurechtfinden, zwischen Empirie und Vorstellung, Erfahrung, Imagination, Abstraktion, Vexierbild Seekarte.

Wie das Meer geschrieben wird: Repräsentationen, Sprachnetze, Zeichensysteme darüber gezogen; Regeln, die den Gebrauch festlegen, das Leben sichern, Seerecht, Windstärken, Tidenhub, Hafenbestimmungen, Seefahrtsjargon, Flaggenalphabet (Flagge A: Halte Abstand! Taucher unten! I have a diver down: keep well clear at slow speed!). Wie es in Wörter zu fassen ist, das Meer, seine Verschriftlichung, die Material- und Proviantlisten des “scrivanello” auf den venezianischen Galeeren, Logbücher und Kompendien, Sea-man’s Dictionairies, nautische Glossare und die barocke Sea Grammar des Admirals John Smith, der vielleicht als erster festlegt, dass gelte: “no less honor to write, than fight”.

Meereswörter und Wörter für das Meer: “Die Griechen hatten viele Namen für das Meer”, schreibt Predrag Matvejević, “hals, das Salzkorn, die Salzflut: das Meer als Materie; pellagos, der Meerespiegel: das Meer als Szenerie; pontos, die hohe See: das Meer als Raum oder Weg; thalassa ist der allgemeine Begriff, seine Herkunft ist unbekannt, vielleicht ist sie kretisch: das Meer als Erfahrung oder Ereignis; kolpos ist der Busen, der Schoß, und benennt ganz intim jenen Teil des Meeres, den das Ufer umarmt: eine Bucht oder einen Meerbusen. Laitma ist die Meerestiefe, die liegt besonders Dichtern und Selbstmördern am Herzen.” [01]

Der Taucher hat sich entschieden, er stößt sich ab von oben nach unten, durchschlägt die Membran der Oberfläche mit seinem Gewicht; im Blick zurück, der Wasserhimmel über ihm wieder geschlossen, selbst bei hohem Wellengang, gewölbter Baldachin, unzerrissen. Umschlossen vom Element der Sehnsucht und der Angst; tautologisch, quasi, die amniotische Analogie “Mutterwasser”, “les eaux de la mère”, wie Buffon es genannt hat, und nur für den kühnen Analytiker Sándor Ferenczi [02] dreht es sich noch einmal um, in seiner phylogenetischen Spekulation über die “thalassale Regression”, entwicklungsgeschichtlich sozusagen, wie in einer russischen Puppe ineinandergeschachtelt, das Meer nicht Ersatz für die Mutter, sondern die Mutter Ersatz für das Meer. Anders als der Schwimmer, der rhythmisch zurückkehrt an die Oberwelt, ist der Taucher einer strengen Ökonomie unterworfen, seine Zeit ist begrenzt (“bottomtime”). Auftauchend einen violetten Seeigel mit weißen Stachelspitzen überreicht, statt eines Blumenstraußes.

Der Gebrauch, den man vom Meer macht, der die verschiedenen Meere konstituiert; Meeresgebrauch, auch für Müßiggänger, an trüben Wintertagen die Hafenmauer, den Strand entlang, das Meer in der Luft, Salz und Jod eingeatmet, leere graue Fläche, um einen Text einzutragen, oder das Glück der Muschelsammlerin, zufällige Fundstücke, vom Meer ausgespuckt, Licht, das sich bricht in den flachen Spiegeln in den Sandgruben und -rinnen, “blinkend”, die das ablaufende Wasser bei Ebbe zurücklässt, noch eine Jakobsmuschel, noch ein Tritonshorn. Oder solche Muscheln, die im Gefolge der Entdeckungsreisen des 18. Jahrhunderts fernwehsüchtige Namen bekommen haben, “carte géographique”, Landkarte, “écriture chinoise”, chinesische Schrift, “soleil levant”, aufgehende Sonne, wie sie im Bildteil der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert verzeichnet sind.

Fundamentale Differenz, am Meer zu leben oder nicht, ein Unterscheidungsmerkmal, in der Antike in der Sprache niedergeschlagen, Differenz zwischen Küstenbewohnern, Festlandbewohnern und Inselbewohnern und die Kategorie der athalattotoi, derer, die vom Meer keine Ahnung haben, nie mit ihm in Berührung gekommen sind. [03] Die Wahrnehmung und die Kategorisierung der Welt sind davon bestimmt, die linguistische “Feineinstellung” zur differenzierten Benennung von Wasser und Winden, nirgends sonst wird von “Wolkentintenfischen” gesprochen, “seppie di vento”, Meereserfahrung, in den Himmel projiziert. (Häufig wechselseitige Spiegelung von Tiefsee und Himmelsraum, das Sternbild des Poseidon, Warmwasserströme als “Milchstraßen des Meeres”.)

Die Herren im maritimen Altersheim in Camogli, der Kasten statt mit Klinken mit Enden von Tauen geschlossen, vorschriftsmäßige Knoten und aus dem Radio den ganzen Tag das bolletino nautico; wo aber wohnt die Signora Altomare, erste Absolventin als Maschinistin am Istituto Nautico in Neapel.

Lange Zeit das Meer entbehren müssen, angewiesen auf Nachrichten aus der Ferne; noch in den sechziger Jahren in kleinen Städten, in Lastwägen auf Marktplätzen zur Schau gestellt: die riesigen Wale, brüchig die Einbalsamierung, die langen Barten gelblich verklebt. Bevor es noch das Meer gesehen hat, spielt das Kind jahrelang unter dem Küchentisch “Abenteuer unter Wasser”.

Aber nicht nur die Anschauung der Natur, sondern auch die Bilder, die das, was man sehen wird, präformieren: Berichte, Erzählungen, Bilder und Lektüren, Romane und Lexika; fremde Wörter aus den Büchern, “Wattenmeer”, “Tidenhub”, “Sargassosee”, “Passatwinde”, die roten Haifischgitter am Ende der Bucht.

Meere der Nähe, die vertraut sind, bevor man sie noch erreicht hat, die Insel des Odysseus und Scylla und Charybdis und der Strand, an dem Aeneas gelandet ist, und andere Meere, der graue Indische Ozean zum Beispiel, die Verlockungen der Ferne, Abenteuer und Piraten, Entdeckungen und Eroberungen der Welt, Schatzinseln, Seekämpfe (Salz an Deck gestreut, nach dem nautischen Glossar, um beim Kampf nicht in einer Blutlache auszurutschen), Seebegräbnisse, die Körper in Segeltuch genäht und eine Kanonenkugel, ein Gewicht zu Häupten und zu Füßen, “to make them sink” nach John Smith, Schlingertaue bei Sturm an Deck gespannt, um nicht über Bord gespült zu werden, navigare necesse, Schiffe versenken, Schiffe verbrennen, Schiffszwieback, Pökelfleisch, Skorbut, Meuterei, und in der Tiefe Wracks gesunkener Fregatten, Schatzverheißungen, Unwägbarkeiten, Magnetberge, Riesenkraken, untergegangene Inseln. Perlenfischer, mit schweren Steinen von der Bordwand gekippt, verrottende stinkende Muschelhaufen.

Lektüren und Abenteuer, in den Lüften und unter dem Meer, in die Zukunft und in die Vergangenheit, Jules Vernes Reise zum Mittelpunkt der Erde und Zwanzigtausend Meilen unter Meer, dem sich nicht nur das Problem des Vordringens in unbekannte Tiefen stellt (Vegetation und Fauna, abgeschrieben aus den Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in Mode gekommenen Aquarien [04]), sondern der auch die Erfindung der Unterwasserfotografie vorwegnimmt:

“,Welch ein Abenteuer!’ rief ich. ‚Wir fahren durch Tiefen, in die noch kein Mensch gelangt ist! Kapitän, sehen Sie diese großartigen Felsen, diese unbewohnten Grotten, diese letzten Schlupfwinkel der Erde, wo es kein Leben mehr gibt? Welch unerhörter Anblick – ach, warum dürfen wir nur die Erinnerung daran behalten?’

‚Würde es Ihnen Freude machen’, fragte mich Kapitän Nemo, ‚mehr als nur eine Erinnerung daran zu besitzen?’

‚Was wollen Sie damit sagen?’

‚Ich will sagen, dass nichts leichter ist, als eine photographische Aufnahme dieser Unterwasserregion zu machen!’

Es blieb mir nicht einmal die Zeit, dem Erstaunen Ausdruck zu geben, das ich über diesen neuesten Vorschlag empfand, als, auf einen Wink Kapitän Nemos, bereits ein Objektiv in den Salon getragen wurde. Vor unseren Augen breitete sich, elektrisch beleuchtet, die Wassermasse in vollendeter Klarheit aus. Kein Schatten, keine Verminderung unseres künstlichen Lichts. Selbst das Sonnenlicht hätte für unser Vorhaben nicht günstiger sein können. Der Nautilus, unter dem Druck seiner Schraube und beherrscht von der Neigung seiner Seitenflächen, stand unbeweglich. Das Instrument wurde auf den Meeresboden gerichtet, und in wenigen Sekunden hatten wir ein Negativ von äußerster Schärfe.” [05]

Ein anderer Zeitgenosse Jules Vernes, in einem Antiquariat in Colombo gefunden, herausgerissene Zeichnungen aus seinem Buch über die Unterwasserwelt von Ceylon, wie es damals noch hieß, der österreichische Diplomat und Forscher Eugen von Ransonnet-Villez, begnügt sich als Expeditionsteilnehmer nicht mit Artefakten und toten Tieren als Belegen für die untermeerische Wunderwelt, sondern lässt sich eine kleine Taucherglocke bauen, unter der er, sitzend mit baumelnden Füßen, mit Stift und Pinsel hantiert und die Wirklichkeit um ihn herum “abzeichnet”:

“Sogleich öffnete ich die eisernen Fensterdeckel, welche zum Schutze des Glases angebracht waren, und blickte nicht ohne eine gewisse Erregung in das weite Wasserreich, das nun zum ersten Male, meinen ungehinderten Blicken erschlossen vor mir lag.” [06]

Der Bildhauer reagiert aufmerksam auf die schwebenden Verhältnisse, das Verhältnis vom Körper im Raum, die freie Beweglichkeit um alle Achsen, die Freisetzung des Blickfelds; aufmerksam auch gegenüber dem Verhalten der anderen Körper und Nicht-Körper, wie die aufsteigenden Luftblasen, zusehen, wie sie sich ausdehnen, verformen und in einem nicht vorhersehbaren Moment ab-, auseinandergerissen werden, aleatorische Formenexplosion, überraschende Beute der Kamera (“was bestimmt die Möglichkeiten der Bildhauerei jenseits der festen Materie”, fragt er sich). Dann gilt sein Augenmerk der Umgebung und was ihr für Bilder abzujagen sind, welche Ausschnitte, jäh beleuchtet, eine Konstellation an Farben und Formen vermuten lassen, die es manchmal, mit den Abweichungen des autonomen Kamerablicks, gelingt dingfest zu machen – vor Täuschungen nicht gefeit, so wie in bestimmten Tiefen gelegentlich ein “fiktives Rot” zu sehen ist, das niemals als solches auf der Filmoberfläche erscheint.

“Taucht man bis zu einiger Tiefe in das Meer hinab, so verliert sich bald schon das Licht. Man dringt in eine Welt der Dämmerung vor, in der ein trübes Rot die einzige noch verbleibende Farbe darstellt; dann aber verschwindet auch dies, und es bricht finstere Nacht herein”,

schreibt Jules Michelet07 in schöner Behauptung des Unrichtigen. Michelet, der immer schon das Beobachtete und das Vorgestellte mit unterschiedsloser Präzision beschrieben hat:

“Man behauptet, dass das fehlende Sonnenlicht das Leben ausschließe, und doch ist in den tiefsten Tiefen der Meeresboden mit Seesternen überdeckt. Die Fluten sind bevölkert von Aufgußtierchen und mikroskopisch kleinen Würmern. Unzählige Mollusken schleppen dort ihre Schalen. Bronzefarbene Krabben, strahlenförmige Aktinien, schneeige Porzellanschnecken, goldene Rundmäuler, gewellte Faltenschnecken, alles lebt und regt sich. Es wimmelt dort von Leuchttierchen, die zeitweise von der Wasseroberfläche angezogen werden und in Form von langen Schweifen, als schlängelndes Feuer und funkelnde Girlanden auftauchen.” [08]

Die Tiefe und die Vorstellung von ihr, die den Betrachter gefangen nehmen, dabei ist es nicht immer die größte Tiefe, die den besten Blick verspricht; “close to the surface”, nahe der Oberfläche, nicht nur in paradiesischen Korallengärten, sondern auch in Hafeneinfahrten, auf unterseeischen Abfallhalden hat Manfred Wakolbinger seine spektakulärsten Bilder erbeutet; spektakulär nicht im Sinne einer Gigantomanie, sondern in der Feineinstellung auf einen Mikrokosmos, der bizarr erscheint und fremd, betörend oder erschreckend.

Die Faszination der Bilder nicht nur daher, dass es sich um Botschaften aus dem sonst Nicht-Sichtbaren handelt, verführerisch, dieses Teilhaben am Geheimnis, über das es sonst nur Vermutungen gibt, sondern auch aus der Freisetzung des Blicks von der Begrifflichkeit, in der Berührung mit einer Welt, in der das Ungeschiedene, Ungewisse dominiert, die Uneindeutigkeit (Stein oder Lebewesen, Pflanze oder Tier) und Wandelbarkeit, Polymorphes statt Festumrissenes. Strukturen, Ensembles, eher Tableaus als Porträts rasch identifizierbarer Einzelwesen (im Nachhinein erst herausfinden, dass es sich etwa um eine “Feuerwalze” handelt, für das Foto selbst unerheblich) – um sie festzumachen, zum Großteil auf Analogien zurückgeworfen, Annäherung nur über Vergleiche: Juwelen, Edelsteine, Insekten, Vögel, exotische Pflanzen, “dieser Zuckerseetang schaut aus wie Jade!” Eine Welt der Metamorphosen, deren Genese in der Antike nur durch die Konjektur der Götter denkbar war (“die lieblichen nereiden! die gefiederdten graien! die süßsauren hesperiden!”), so wie es Ovid für die Entstehung der Korallen beschreibt, wo mutwillige Nymphen ihr Spiel treiben mit der versteinernden Kraft des auf Seetang gelagerten Medusenhaupts: “Immer noch bleibt den Korallen das nämliche Wesen: sie werden hart, wenn die Luft sie berührt, und was in dem Meere Gezweig war, wird, enthoben dem Meer, zu starrem Gesteine gestaltet.” [09] Sich bewegen im Reich der Metamorphosen, der fließenden Übergänge und Verwandlungen heißt auch die Festlegungen unterlaufen, so als würde er einen Schritt zurückmachen, noch einmal, um so weit als möglich zu schauen, unvoreingenommen, als wäre Linné außer Kraft gesetzt und er würde die zärtlich-einfühlsame Betrachtungsweise Michelets wieder aufgreifen, Michelet, der sich gewissermaßen hinunterbeugt, um diesen fremden Wesen in Augenhöhe zu begegnen, ihnen “Empfindungsvermögen” zuschreibt, wie er es für die Meduse als “Tochter des Meeres” imaginiert:

“In ihrem Meeresmilieu lebend, dessen Berührung liebkosend ist, umgibt sie sich mit einem Panzer widerstandsfähiger Epidermis wie wir Erdentiere. Ihr widerfährt alles nackt und unmittelbar.” [10]

Im Umkehrschluss lässt Jules Verne seinen Professor Aronnax träumen:

“Ich träumte – man kann sich seine Träume nicht aussuchen -, ich träumte also, mein Dasein werde zurückgeführt auf das vegetative Leben einer Molluske. Es kam mir vor, als bildete diese Grotte die Doppelschale meines Gehäuses…” [11] Die wahre Spannung, ob es sich um Belebtes oder Unbelebtes handelt, Erschrecken, wenn der vermeintliche Stein plötzlich als Sepia unter dem Körper durchsegelt, selbst die Fossile, wie Bachelard sagt, lediglich “in ihrer Form eingeschlafen” [12] und die Faszination durch die Vielfalt, Ungewissheit, welchem Reich zugehörig oder mehreren gleichzeitig, “gibt es eigentlich seejungfrauen im meer?”, Fragwürdigkeit der Taxonomien; frei flottierende Pflanzen, festgewachsene Tiere. Chapeaux chinois, den Stein mimetisierend, ein Herzschlag, sie zu berühren, spüren, wie das Lebewesen im Inneren Zeichen von seiner Existenz gibt, die Ränder verschließend, mit Heftigkeit sich festsaugend.

“Tierpflanzen” beschreibt Jules Verne:

“Unterden Tierpflanzen waren einige schöne Seeanemonen, Phyctalis tecta, in diesem Teil des Ozeans beheimatet, ein kleiner zylindrischer Stamm, verziert mit vertikalen Linien und roten Tupfen, gekrönt von einem prächtigen Nest von Tentakeln. Was die Mollusken anging, waren es Arten, die ich schon beobachtet hatte, Turmschnecken, Dreiecksmuscheln mit regelmäßig gekreuztem Muster, dessen rote Tupfen sich lebhaft abhoben vom fleischfarbenen Grund, bizarre Flügelschnecken, die versteinerten Skorpionen glichen, durchsichtige Seeschmetterlinge, Papierboote, ausgezeichnet schmeckende Tintenfische und gewisse Kalamare, die die Naturforscher des Altertums unter die fliegenden Fische rechneten und die hauptsächlich als Köder für den Dorschfang dienen.” [13]

In den Bildern von Manfred Wakolbinger der Blick auf eine Welt, die nichts Anthropomorphes mehr hat, Öffnungen, Membrane, Geflechte, reusenartig, Fühler, sich aus- und einklappende Arme, Augen, Einzellerwesen, in ihrer Fremdheit, Befremdlichkeit und Eigentümlichkeit belassen, nicht der “Menschenvergleich” darüber gestülpt; die landläufige Ordnung und Zuordnung in Frage gestellt, Raum schaffen für ein mögliches Anderes; “er denkt in Tieren wie andere in Begriffen”, hat Elias Canetti gesagt, aber auch diesen Blickwechsel im Tiergegenüber fokussiert: “Das Unerlangbare an Tieren: wie sie einen sehen” [14], und nur Mutmaßungen, was ihre Beziehungen untereinander betrifft, Konvivenzen, unbekannter Pakt: anthropozentrische Sehweisen in Frage gestellt und eine Ent-Hierarchisierung ins Bild gesetzt. Spätabends auf dem Heimweg am Meer entlang: bei jedem Schritt Lichtbüschel abgeschüttelt, das Leuchten von den Fingerspitzen gesprungen.

Einen ironischen Blick in die Zukunft hat Marcel Broodthaers in den siebziger Jahren getan, der in seinem Künstlerbuch “Magie. Art et Poétique” (1973) unter “Künstler sein” quasi eine Perspektive der Zunft entwirft:

“sculpter. se noyer comme le fils d’un dieu! Quelle gloire… Mieux vaut simuler. Accessoires: Costume de plonger. Poissons. Fleurs.” – “bildhauern. wie der Sohn eines Gottes ertrinken! Welch Ruhm… Es ist besser simulieren. Zubehör: Tauchanzug. Fische. Blumen.”

Ein Kind, knapp am Wasser den Strand entlanglaufend und mit einem Bambusstab, hinter sich hergezogen, eine Linie in den feuchten Sand zeichnend, die manchmal vom Meer überspült, von den Wellen gelöscht wird: “Das macht nichts, das mache ich absichtlich! Das ist das Schöne!”

01 Predrag Matvejevi, Der Mediterran. Raum und Zeit, Zürich 1993, p. 202

02 Sándor Ferenczi, “Versuch einer Genitaltheorie” [1924], in: Schriften zur Psychoanalyse, Auswahl in 2 Bänden, hg. von Michael Balint, Frankfurt/M. 1972, Bd. II, p. 317-400

03 Matvejević, a.a.O., p. 210

04 Ursula Harter, “Am Grund des Meeres lebt die telegraphische Koralle. Der Traum ist das Aquarium der Nacht: wie im neunzehnten Jahrhundert Unterwasserparadiese zum Sinnbild unseres Innenlebens wurden”, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. 9. 2003

05 Jules Verne, Zwanzigtausend Meilen unter Meer, Zürich 1976, II, p. 216f. (französische Originalausgabe Vingt mille lieues sous les mers, Paris 1870)

06 Baron Eugen von Ransonnet-Villez, Ceylon. Skizzen seiner Bewohner, seines Thier- und Pflanzenlebens und Untersuchungen des Meeresgrundes nahe der Küste, Braunschweig 1868

Vgl. auch Die Entdeckung der Welt. Die Welt der Entdeckungen. Österreichische Forscher, Sammler, Abenteurer, hg. von Wilfried Seipel, Wien 2001.

Dort auch ein Aufsatz von Helmut Sattmann und Verena Stagl über “Die österreich-ungarischen Tiefsee-Expeditionen mit dem Schiff Pola”, p. 155f.

07 Jules Michelet, Das Meer, Frankfurt/New York 1987 (französische Erstausgabe La mer, 1861)

08 Ebd., p. 88

09 Ovid, Metamorphosen IV, v. 750ff.

10 Michelet, a.a.O., p. 130

11 Verne, a.a.O., II, p. 200

12 Gaston Bachelard, Poetik des Raumes, München 1975, p. 142 (französische Originalausgabe La Poétique de l’espace, Paris 1957)

13 Verne, a.a.O., II, p. 329

14 Elias Canetti, Die Fliegenpein. Aufzeichnungen, München 1992, p. 14, p. 121