Hans-Werner Schmidt — Wakolbingers Kunstfiguren
Von der Boden- zur Luftakrobatik - 1997
Texte

Im Sonnenschein heißt eine Plastik von Manfred Wakolbinger aus dem Jahr 1984. Es ist ein Ensemble aus präsentierten und präsentierenden Elementen; ein Zusammenspiel von freien, wenn auch an die menschliche Figur erinnernden Formen, und einer dienenden Konstruktion, die sich darüber hinaus als Bedeutungsträger artikuliert. Zwei Kupferelemente bilden zusammen eine Figur. Ein Winkelteil, das eine zahnradähnliche Form stützt, und ein Halbrund, welches ein langgestrecktes, flach liegendes Element überspannt, erwecken das Vorstellungsbild einer ruhenden Gestalt in entspannter Lage. Der Titel der Arbeit trägt seinen Teil dazu bei. Die Präsentationsfläche des kupfernen Ensembles entspricht einem Liegemöbel mit angewinkelter Kopfstütze. Diese Konstruktion besteht aus Gips. Die Gelbtönung der Liegefläche korrespondiert mit dem “Sonnenschein” im Titel.

Manfred Wakolbinger findet in dieser frühen Arbeit zu einer Gestaltungsform, die für seinen Werkverlauf bestimmend wird. In der Präsentation erscheinen die Übergänge zwischen herausgearbeiteter Figur und der sie tragenden Konstruktionen in einem Korrespondenzverhältnis, ohne dass dabei der tonangebende Part der Figuren zurückgenommen wird. Die Plattform für den “Auftritt” verfügt jeweils über eine Assistenzqualität.

Ein Jahr später entsteht die Artistin (1985). Das Kupferelement, anscheinend einer ausgeprägten Rückenbeuge kopfwärts nach hinten nachempfunden, ruht auf zwei Sockeln. Das Vor-/Verbeugen, das Neigen des Körpers nach vorn, lässt sich ebenfalls in die Figur projizieren. Doch diese Haltungsform hat wenig vom Artistischen, welches im Titel angesprochen wird. Die Basiszone bildet ein gekappter Kegel, aus dem ein eiförmiges Gebilde “herauswächst”. Dieses stabilisiert den gebeugten Oberkörper der Figur. Der Sockel nimmt somit die fließenden Rundformen der Artistin auf und “assistiert” gleich zweimal. Der Eindruck des “Auftritts”, die Pose des Sich-Windens, eine Torsion der Figur, die an manieristische Skulptur erinnert, bestimmt auch die plastischen Gestaltungen in zeitlicher Nachbarschaft zur Artistin wie Triton I und Triton II (beide 1985). Die jeweiligen Sockelzonen korrespondieren in den Detailgestaltungen mit den gleichsam darauf präsentierten Figuren, die sich in einem Akt der Balance zu befinden scheinen. Im Jahr 1986 arbeitet Wakolbinger verschiedene Gefäßformen aus. Das kupferne Innenleben ist von einer Außenhaut aus Spachtelputz umschalt. Während bis dahin die verputzten Sockel wie verhalten wirkende Dialogpartner der Kupferelemente auftraten, ist es nun eine raue Schale, die der Binnenform folgt. Das bisher skulptural exponierte Kupfer zieht sich zurück und wird zur Gehäuseform, die einen Raum umschließt. Die skulpturale Gestaltung hat ihren Ort im Inneren. Die Schale greift nur die Ausdehnung des Innenraums auf, ohne auf das differenzierte Formenspiel zu reagieren. Die Verschalung kommt dem traditionellen Skulpturensockel gleich, der allein proportional in seiner Bemessung auf die ausgestellte Form reagiert.

War bis dahin der graue, stumpfe und lichtabweisende Spachtelputz der Sockelzone vom metallischen Glanz der Figuren geschieden, konnte also die Wahrnehmung trotz verhaltenen Dialogs der Formen die einzelnen Materialien noch sortieren, so wird bei den Gefäßformen der Kontrast der Werkstoffe in der Verschränkung von Außen- und Binnenform verstärkt. Klaffende Öffnungen, Schlitze und Gucklöcher erscheinen wie sezierende Eingriffe. Der Glanz des Kupfers im Kern der Skulptur gerät in der aschfahlen Umrahmung zur inneren Erleuchtung.

Es folgt ein weiterer Schritt, bei dem der Dialog von Rahmenform und Innenleben, von Exponiertem und Exponierendem neu artikuliert wird. In einer Werkgruppe, die ohne Titel bleibt, stehen wellenförmige Kupferelemente aufrecht in gläsernen Vitrinen (1991/92). Bei den ersten Arbeiten ist der Zuschnitt des Behältnisses nicht korrespondierend auf den Fluss der Binnenform abgestimmt. Das Gehäuse entspricht in seiner Rechtwinkligkeit eher der Vorgabe einer Vitrine. Doch dabei wirken die präzise auf die Dimension der Kupferelemente bezogenen Glasstürze viel unmittelbarer mit dem Präsentationsstück verbunden als klassische museale Behältnisse, die der Skulptur Freiraum geben und in ihrer dienenden Funktion aus der Wahrnehmung heraustreten, die allein das Kunstobjekt fokussieren soll. Doch für Wakolbingers Werkverlauf ist es konsequent, dass analog zu den früheren Korrespondenzverhältnissen zwischen Skulptur und den sie tragenden und mitartikulierenden Sockeln auch hier eine größere Annäherung zwischen Binnen- und Rahmenform stattfindet. So kommt Wakolbinger zu Glasstürzen, die er bei breiter Standfläche nach oben verjüngt. Sie sind in dieser Weise noch enger abgestimmt auf den “Fuß” der Welle oder ihren größten Ausschlag, während in der oberen Verebbungszone das Glasbehältnis in einen engen Zulauf überführt wird.

Zwischen Einfassung und Eingefasstem gibt es darüber hinaus Bezüge, in denen substanzielle Eigenschaften und Wirkungsweisen streiten. Das Kupferblech folgt der Wellenform. Die optische Dynamisierung widerspricht der Konsistenz des Materials. Lichtreflexe und auch die schlierenhaften Spuren, die die Schweißvorgänge auf der Oberfläche der Bleche hinterlassen haben, tragen zur scheinbaren Inkonsistenz des Materials bei. Gegenüber dem Werkstoff Kupfer ist das fassunggebende Glas ein aus dem Fluss kommendes, transparentes, immateriell wirkendes Material. Es ist sogar über längere Zeiträume einem Bewegungsvorgang unterworfen. Als aufrecht stehende Scheibe wird die plane Form über Jahrzehnte in sich, wenn auch minimal, zusammensinken. Entsprechend einer Ausdünnung an der Oberkante bildet sich am unteren Abschluss ein leichter Wulst.

Doch dies ist nur eine Facette des optischen und gedanklichen Spannungsverhältnisses zwischen Einfassung und Eingefasstem. Im transparenten Gehäuse wirkt nicht nur die Welle segmentiert, sondern auch der unmittelbare Umraum. Zwischen Wellenkamm, Wellental und ihrem gläsernen Gegenüber stehen Nachbarschaftszonen plastisch vor Augen. Die Auswölbung kann viel bewusster auch als Einbuchtung gesehen werden und ein besonders dynamischer Wellenausschlag korrespondiert im Gehäuse mit einem Engpass. Die gläserne Vitrine kommt dem abgezirkelten Luftraum gleich, der eine Skulptur umfasst und der ein umittelbares Reagieren auf den Formenverlauf der Plastik darstellt.

Eine vierteilige Wand-/Vitrinenarbeit (Venedig, 1993) fixiert den kupfernen Wellenverlauf in der Architektur. In die Sockelzone unter einer Fensterfront integriert, hat die Rahmenform hier “die Oberhand gewonnen”. Die Wellen ruhen in Schaukästen und können nichts von ihrem Bewegungsablauf an ihre Umgebung weitergeben.

Vielleicht ist die hier geübte Zurückhaltung der Grund, dass Wakolbinger zu neuen, ausladenden und den Raum bespielenden Formen kommt. 1996 stellt er eine Skulptur fertig, die wie eine Synthese aus der Liegekonstruktion von Im Sonnenschein (1984) und den Wellenfiguren (1991/92) erscheint. Gleich einer langgestreckten Liege mit Nackenstütze und stabilisierendem zusätzlichen Standbein wellt sich die Form in den Raum. Hat Wakolbinger bei der “Venedig”-Arbeit der fassenden Innenarchitektur den bestimmenden Anteil überlassen, so ist es bei der neuen Liegekonstruktion nur konsequent, gänzlich auf eine flankierende Rahmenform zu verzichten.

Wakolbinger belässt sowohl die “Venedig”-Arbeit als auch die “Liege” im “Ohne Titel”-Bereich. Dies ist aber das einzige Verbindende. Mit der “Liege” betreibt er eine Revision früherer Arbeiten und eröffnet ein neues Feld, ohne die eingangs bezeichneten Gestaltungsprinzipien aufzugeben. Wakolbinger schließt an mit einer Gruppe von Kupferelementen, bei denen es Assoziationen ungleich schwerer haben, eine fest umrissene Projektionsfläche zu finden als bei den früheren anthropomorphen oder auch gefäßartigen Skulpturen. Doch auch hier kommt das Zusammenspiel zwischen freier Form und Präsentations-“Behelf” zu neuen Ausformungen. Ständerkonstruktionen im Raum, an den Wänden fixierte Winkeleisen oder mittels Ketten gebildete Hängevorrichtungen scheinen die kupfernen Körper ihrer Bodenschwere zu entheben. Gleich Fließformen im Raum kerben sie sich ein in die Halterungen.

Wirkten die Wellen in den Vitrinen wie säuberlich abgetrennte Segmente, so haftet den neuen Kupferelementen – allesamt ohne Titel – ein Ausdruck von Rohheit an. Wer einmal über Jahrhunderte abgehangenen Schinken gesehen hat, wird sich angesichts Wakolbingers hängender Kupferteile daran erinnern. Doch es beginnt hier ein Streit der “Als wie”-Bilder. Die metallische Haut der Körper und der unbeugsame Zugriff der Halterungen wecken auch Technik-Assoziationen. Die Elemente finden zu ihrem Auftritt zwischen Himmel und Erde, so wie Bauteile von Kränen aus der Lagerstätte zu ihrem Einsatzort bewegt werden.

Hatten bisher Sockel und Gehäuse die Standfestigkeit von Wakolbingers Skulpturen betont, so entheben die neuen Vorrichtungen die plastischen Gebilde ihrer Bodenschwere. Die Artistin präsentiert sich nicht mehr in gespreizter Rückendehnung, sondern als gewundene und Balance haltende Figur am Seil. Die “Wellen” brechen aus ihren Aquarien aus und beschreiben als “Luftschlangen” einen ungestümen Verlauf im Raum. In plastischer Kompaktheit belassene Formen erscheinen demgegenüber so, als seien sie das entkernte Innenleben der “Gefäßformen”. Von der Decke hängend wirken sie in ihrem kupfernen Glanz wie Leuchtkörper. Es ist nur konsequent, dass sich zu diesen im freien Raum tänzelnden und scheinbar schwebenden Formen weitere flügelartige Elemente gesellen, die an frühe Flugbehelfe erinnern. Die Korrespondenz mit dem Luftraum scheinen zudem jene jüngsten Konstruktionen in Drehung zu suchen, die an Bauteile von Parabolspiegeln erinnern. Sie sind die Aufnahmegefäße von Wellen, die freilich hier im Unsichtbaren bleiben.

In unmittelbarer Nachbarschaft versammelt, wirken Wakolbingers hängende, gestützte und aufgerichtete Kupferteile wie Fragmente, zergliedert und versprengt im Raum, die anscheinend auf einer Fertigungsstraße zu einem funktionierenden Ganzen zusammengesetzt sein wollen. Geht man diesem Vorstellungsbild nach, wird man bald zur Einsicht kommen, das diese Projektionsarbeit der des Sisyphos gleichkommt. In ihrem je eigenem Schwung widersetzen sie sich möglichen Ansprüchen von Vernetzung und Kompatibilität. Wakolbinger ist eben kein Konstrukteur, sondern ein Bildner der freien Form.