Lóránd Hegyi — Die Skulptur als Vergegenständlichung der Relationalität - 1997
Texte

Die skulpturale Thematisierung der Dialektik der Relativierung und der Verabsolutierung der physisch-materiellen, sensuell-empirischen Wahrnehmungsprozesse bestimmt die formimmanenten Strategien der plastischen Gestaltung im Œuvre von Manfred Wakolbinger. Verabsolutierung der materiellen, empirischen Momente bedeutet nicht nur eine unmittelbare physisch-haptische Begegnung, eine quasi “körperliche” Beziehung mit dem plastischen Phänomen, sondern auch eine unvermeidbare Konfrontation mit den höchst sensuellen, manchmal sogar fast sexuellen Konnotationen, welche durch die starke Präsenz der materiellen Eigenschaften der Formen entstehen. Die Bildhauerei von Manfred Wakolbinger war von Anfang an von dieser akzentuierten Sensualität und von der starken, sogar überwältigenden Materialität geprägt. Wenn er mit scheinbar traditionellen Mitteln die Relationalität der plastischen Körper im Kontext des Raumes sensibilisiert, bewegt er sich auf dem Weg der klassischen Fragestellungen der europäischen Bildhauerei, welcher vor allem die prinzipielle Geschlossenheit der plastischen Form bewahrt, den Raum als leere, neutrale Umgebung und die Skulptur als voluminös-gefüllten Körper betrachtet. Aber Wakolbinger führt ein neues Element in die Auseinandersetzung mit dem plastischen Körper ein, nämlich die Hülle als gestalterische Komponente. Damit beginnt ein komplexer Prozeß der Relativierung der traditionellen Sichtweisen und gleichzeitig eine ständige Neudefnierung der Position des Betrachters. In diesem Relativierungsprozeß wird nicht nur das Phänomen der plastischen Form, nicht nur die Phänomenologie der formimmanenten Zusammenhänge untersucht, sondern es werden auch die Möglichkeiten und die Relevanz der Wahrnehmung selbst thematisiert.

Dadurch, daß diese Hülle oft transparent ist, werden die Grenzen zwischen Körper und Raum beziehungsweise zwischen innerem Raum und äußerem Raum relativiert, oft sogar vermischt. So operierte Wakolbinger Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre mit den Glaskuben, die die organisch-ornamentalen Formationen beinhaltet haben. Der Inhalt war die – sinnliche, feischlich-organisch erscheinende, in rötlich-gelblichem Kupfer gestaltete – Form, welche wie ein Schatz, wie ein wertvolles, geheimnisvolles, exotisches Kultobjekt bewahrt, aber auch in der als Vitrine fungierenden Glashülle zur Schau gestellt wurde. In diesem Fall fungierte die äußere “Fassade” gleichzeitig als geometrische Form – etwa wie eine Minimal-Skulptur -, als Teil der plastischen Struktur, als gestalterisches Element des Kunstwerkes und als Hülle, als durchsichtige Wand, welche gleichzeitig schützt und betrachtbar macht; welche den inneren Raum vom äußeren Raum trennt.
Ironischerweise ließe sich behaupten, daß der innere Raum “wertvoller” sei als der äußere Raum; daß der innere Raum die Kunst sei, der äußere Raum das Leben. Ebenso könnte man – nicht ohne Ironie – behaupten, daß der innere Raum der “Inhalt” sei und die Glaswand die Form. Dies würde dann auch bedeuten, daß die ästhetische Form – im hegelianischen Sinne – nur die Hülle für den eigentlichen wertvollen Inhalt darstellt. In diesem Sinne gäbe es zwei Formen: zum einen den Glaskubus, zum anderen die feischlich-organische Kupferformation. Diese ironische Thematisierung der Dialektik der Form und des Inhaltes zeigt genau, wie Wakolbinger die physisch-empirischen Wahrnehmungsprozesse der einfachsten sinnlich-plastischen Elemente radikal relativiert und gleichzeitig die Relevanz der sensuellen Form in ihrer sinnlich-materiellen Evidenz bewahrt und sogar als zentrales Moment bewußt betont und in den Wahrnehmungsprozeß einbezieht. Diese künstlerische Strategie unterscheidet prägnant die Arbeit von Manfred Wakolbinger von gewissen Tendenzen der Entmaterialisierung, welche ihre Legitimation direkt oder indirekt aus den minimalistischen Theorien gewinnen. Wakolbingers Position ist in diesem Sinne typisch für die späten achtziger und frühen neunziger Jahre, in denen man die unterschiedlichen Strategien der Rematerialisierung beobachten kann.

Diese Intellektualisierung der sinnlich-plastischen Mittel steht in Zusammenhang mit dem Prozeß der “Rematerialisierung” der Konzepte des Kunstwerkes als Kommunikationssystem. Während in den sechziger und in den siebziger Jahren eine starke Entmaterialisierungstendenz in der Kunst dominierte, die mit der Funktion der Selbstdefnition einherging, läßt sich heute eine evidente Tendenz der “Rematerialisierung” beobachten. Der “Körper” des Kunstwerkes wird auf verschiedenen Ebenen als primär-semantisches Element betrachtet; die Materialität beziehungsweise die Sinnlichkeit der verschiedenen Materialien wird als intellektuelles Phänomen gleichzeitig verallgemeinert und in ihrer sinnlich-plastischen, physischen Existenz konkretisiert. Der Körper wird nicht mehr als Demonstrationsobjekt einer allgemeingültigen Konzeption oder Struktur betrachtet, sondern durch seine physische Existenz ins Zentrum eines Denkprozesses gestellt. In diesem Kontext wird das Objekt nicht nur als rein intellektuelles Modell, sondern als – mit seinen physischen Gegebenheiten wirkender, durch seine materielle Existenz relevanter – integrierter Teil der physischen, faßbaren Wirklichkeit interpretiert. Deswegen sehen wir divergente Versuche, die Materialität entweder in die sinnliche, überraschende, provokative Richtung zu steigern, oder sie auf das Minimalste zu reduzieren, ohne sich dabei auf die Tautologie – im klassischen Sinne – des Minimalismus der sechziger Jahre zu beschränken.
Ab Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre machte sich in Österreich eine neue Künstlergeneration bemerkbar, deren Geschichte und Artikulation eindeutig mit dem internationalen Kunstgeschehen verbunden ist. Einer ihrer typischsten Vertreter ist Manfred Wakolbinger. Das neue Kunstbewußtsein in Österreich hat auch die Diskussion über die Bedeutung der kulturellen Regionen in der Gegenwartskunst mit kunstgeschichtlichen Argumenten bereichert. Statt eines ahistorischen, abstrakten, naiv-evolutionistischen Internationalismus wurde eine historisch sensiblere, realistische Regionalismus-Auffassung formuliert, wobei die kulturelle Einbettung als unmittelbares Sprachmaterial in der künstlerischen Artikulation Anwendung fand. Die jungen Künstler stellten die formalistische, kunstevolutionistische Konzeption des Modernismus in Frage und machten die ästhetische Verkörperung der kulturgeschichtlichen Prozesse zum Zentralthema ihrer Kunst. Die unmittelbare sensuelle Wirksamkeit und die radikalisierte Sinnlichkeit des Kunstwerkes verliehen dieser ästhetischen Fiktion der Verkörperung kulturgeschichtlicher und mythologischer Symbole kraftvolle Evidenz, wobei die anthropologischen Bedeutungsebenen und die aktualisierten kulturgeschichtlichen Allegorien allen linear-evolutionistischen, formal-phänomenologischen Auffassungen widersprachen.

Wie schon 1982 Wilfried Skreiner feststellte, gab es innerhalb der neuen österreichischen Kunst mindestens zwei Gruppierungen, die unterschiedliche Haltungen gegenüber Expressivität, Bilddramatik, Inhaltlichkeit und Formvokabular vertraten. Interessanterweise verursachte der Auffassungsumschwung in der Mitte der achtziger Jahre auch im Œuvre der Künstler, die zum Kreis der expressiven, dramatisch-artikulierenden Maler gehörten, wie zum Beispiel Hubert Schmalix, Erwin Bohatsch, Alois Mosbacher und Lois Weinberger, prägnante Stilveränderungen. Franz West, Erwin Wurm und Manfred Wakolbinger vertraten am Anfang der achtziger Jahre auch eine Position, welche Sinnlichkeit und starke Bewertung der Materialsensibilität, sogar eine gewisse malerische Expressivität und fast barocken Ornamentalismus mit schwer vermittelbarer intellektueller Inhaltlichkeit verband. Die spätere Entwicklung ihrer Kunst, eben etwa ab der Mitte der achtziger Jahre, zeigt genau den Auffassungswechsel, welcher den Gesamtcharakter der österreichischen Gegenwartskunst von der transavantgardistischen, eklektischen Sinnlichkeit und von einem radikalen Subjektivismus in Richtung einer intellektuellen, kühlen, präzisen Formsprache und einer gewissen Ökonomie und Sparsamkeit, Reduktivität und Entmaterialsierung führt. Während im Œuvre von Franz West die Auseinandersetzung mit psychologischen und anthropologischen Fragen die Kunstsprache nie in formalistischem Sinne beschränkt und die provozierende Direktheit psychologischer Inhalte den menschlichen Körper als Instrument von Ausdrucksmechanismen bestimmt, können wir in der Entwicklung von Erwin Wurm und Manfred Wakolbinger eine starke Tendenz zu Vereinfachung, Reduktivität und Sparsamkeit der Ausdrucksmittel beobachten. Beide Künstler nähern sich ontologischen Fragestellungen, die oft in dualistischen Systemen thematisiert werden. Bei Erwin Wurm sind die Träger dieser Fragestellung die Hülle und die Leere beziehungsweise die Präsenz und Absenz von Material. Manfred Wakolbinger vergegenständlicht diesen Dualismus durch die Beziehung von innerer und äußerer Form beziehungsweise durch die transparente Oberfläche und massive, schwere Körper. Die organisch-sinnlichen inneren Formen werden durch die rigiden geometrischen Glaskuben optisch verändert. Die positiven, vollen und die negativen, leeren Räume bieten Ansichten von verschiedenen Standpunkten aus. So werden die Oberfläche wie der innere “Inhalt” verdoppelt und dadurch relativiert. In den jüngsten Arbeiten von Erwin Wurm und Manfred Wakolbinger scheint eine fast provokativ wirkende, körpernahe Direktheit wieder stärker zu werden. Die Videoarbeiten Erwin Wurms zeigen “lebende Skulpturen”: Die sich langsam bewegenden menschlichen Körper sind von Kleidungsstücken bedeckt und die plastische Form des so entstandenen “lebenden Objektes” weckt im Betrachter verwirrende, unheimliche Gefühle, da die anthropomorphen Erwartungen auf eine fast brutale, beängstigende Weise gestört werden. In der Bildhauerei Manfred Wakolbingers verlassen die aus Kupfer gestalteten sinnlichen Körper, die an Fleisch denken lassen, ihre Glaskuben. Aufgehängt auf Eisenhaken wirken sie wie riesengroße Fleischstücke in einem Schlachthaus. Die Sinnlichkeit wird also nicht mehr – wie am Anfang der achtziger Jahre – im Rahmen einer impulsiven, dynamischen, “vegetativen” Unmittelbarkeit, sondern als etwas Provokatives, Beängstigendes, fast Abschreckendes präsentiert, sie erfährt ihre Thematisierung als Prozeß der Werkbetrachtung.

Genau als Gegensatz zu den tautologischen Modellen der sechziger und siebziger Jahre, welche die formalistische, phänomenologische Interpretation verabsolutieren, operiert Wakolbinger mit dem Einbeziehen nicht-formalistischer Momente, welche die plastischen Strukturen im Kontext der soziologischen oder der psychologischen Referenzen interpretieren. In diesem Sinne betont er zum Beispiel den Akt des “Zur-Schau-Stellens” des Objektes, auch in seinen Glaskubus-Arbeiten, aber auch bei den neueren, hängenden Skulpturen, welche den Status der zur-Schau-gestellten Gegenstände mit der Andeutung des brutalen körperlichen Ausgeliefertseins verbinden. Der Akt des “Zur-Schau-Stellens” beinhaltet physische, psychologische, kultursoziologische und ästhetische Momente, wobei sich der Kult des – in einen sicheren, geschützten, aber einsehbaren Raum gestellten – wertvollen und “exotischen” Gegenstandes auch als Metapher der Museologisierung und der verfremdeten, modernen Werkauffassung interpretieren läßt.

Aber die – in einem kultursoziologischen Kontext auch analysierbaren – transparenten Glasboxen beinhalten auch eine völlig andere, ästhetisch dechiffrierbare, aus dem kultur-soziologischen Kontext nicht ableitbare neue Funktion: sie schaffen eigentlich eine neue “zweite” Form, welche die klassische Dialektik des gefüllten und des leeren Raumes in einem neuen Kontext reformuliert. Nämlich die harten, festen Glasscheiben bestimmen den Kubus, welcher von außen eine einheitliche, geometrische Form ergibt. Die optische Wahrnehmung vermittelt einen anderen Eindruck als die physisch-haptische: Wir sehen einmal eine – aus Kupfer gestaltete, organisch oder ornamental wirkende, die sensuellen, physischen Eigenschaften des sinnlichen Materials stark betonende – “volle”, gefüllte Form und eine andere, “zweite”, quasi “negative” Form, welche zwischen der “positiven”, gefüllten Form und den harten, glatten Glasscheiben entsteht. Bloß dadurch, daß Wakolbinger die “innere”, “volle”, körperhafte Form in einen Glaskubus hineinstellt, entsteht eine “negative”, immaterielle, vom umgebenden Körper quasi negativ bestimmte “zweite” Form, welche – ohne aus einem sinnlichen, faßbaren, festen Material gemacht zu sein – ähnliche formale Qualitäten aufweist wie die “erste” Form, welche die traditionelle Erwartung der sinnlich-empirischen Wahrnehmung erfüllen kann.

Da diese Hülle nicht aus durchsichtigem Glas, sondern aus einem sensuellen, an Fleisch erinnernden Material, nämlich Kupfer, besteht, bekommt sie einen “Haut-Charakter”, dessen ursprüngliche und natürliche Funktion es ist, den Körper zu bedecken, das heißt, die inneren, empfindlichen Teile zu schützen. Dadurch wird auch ein verborgener psychologischer Moment deutlich spürbar, da die skulpturalen Formationen einen sensuellen, organischen Charakter gewinnen, etwas Körperliches, etwas Physisch-Sinnliches, manchmal sogar etwas Brutales oder Sexuelles. Sie beginnen sinnlich zu provozieren, sie sensibilisieren Assoziationen und fordern ein völlig anderes Verhältnis zu den Skulpturen heraus, als wenn sie nur Demonstrationsobjekte einer ästhetischen Auseinandersetzung mit der Problematik der Relationalität der Skulptur im Raum oder nur Modell eines intellektuellen, dialektischen Wahrnehmungsprozesses wären. Diese gleichzeitig künstliche und sensuell-organische “Haut” schützt nicht nur den Körper, bedeckt nicht nur das Innere, sondern trennt auch die Sphären voneinander und schafft eine Grenze zwischen dem Inneren und dem Äußeren, zwischen dem Leeren und dem Gefüllten, zwischen dem Organisch-Fleischlichen und dem Anorganisch-Dinglichen.

Diese stark betonte Sensualität mit ihren oft brutalen und beängstigenden Assoziationen wird durch den Akt des Aufhängens noch dominanter, als in den Glaskubus-Arbeiten. Hier entfernt sich Wakolbinger vielleicht am radikalsten von der klassischen Skulptur-Auffassung, besonders dadurch, daß seine rötlich-glänzenden, die Spuren der Bearbeitung (“Wunden”) auf ihrer Oberfläche (“Haut”) hemmungslos zeigenden, an Fleisch erinnernden, schweren Körper tatsächlich auf Haken aufgehängt wurden und von jedem bewegbar sind. Sie sind keine statischen Skulpturen mit festem Grund und mit stabiler Positionierung: Sie sind aufgehäufte Massen, die bedrohlich im Raum ihren Platz einnehmen.

Obwohl in diesen Arbeiten die psychische Inhaltlichkeit und die körperbezogene Sensualität ziemlich stark die Bedeutungsstruktur prägen, thematisiert Wakolbinger auch in diesem Fall weiterhin die Relationalität der plastischen Körper im Raum. Seine Formationen sind nicht “raumbezogen” im Sinne einer bewußt kalkulierten und die Eigenschaften der gegebenen Räumlichkeiten reflektierenden, modellhaften Installation, aber im Zentrum seiner Bemühungen steht weiterhin die Vergegenständlichung der Relationalität der plastischen Gestaltung. Interessanterweise verbindet er hier die klassische Problematik der Bildhauerei mit ebenso “modern-klassischen” Themen wie etwa der Bedrohung, der Zerstörung, des existentiellen Ausgeliefertseins, usw., aber das plastische Ergebnis ist alles andere als klassisch. Und eben in diesem Zusammenhang kann man das spezifische “Aktuelle”, das par excellence “Heutige”, das prägnante “Zeitgenössische” im Œuvre von Manfred Wakolbinger erfassen: Die intellektuelle und formimmanente beziehungsweise raumimmanente Fragestellung wird in seiner Arbeit in einer provozierenden, radikal sensuellen Form vergegenständlicht, welche die analytischen und die sensuell-empirischen Momente gleichzeitig manifestiert.