Manfred Wakolbinger – Unter der Oberfläche - 2012
Texte

Wenn David Cameron seine Erfahrungen aus den Tauchgängen zum Wrack der TITANIC nutzt, um in AVATAR die fantastischen Bilder aus einer anderen Welt herzustellen, dann setzt er dabei einen Kunstgriff ein, der gebräuchlich ist: Er transformiert Bilder und Wesen aus der Unterwasserwelt durch das Auge in unser Inneres, um eine ferne intergalaktische Welt zu erzeugen. Die Sehnsucht nach dem Wissen um den so weit entfernten Raum wird mit Bildern von Landschaften und Geschöpfen aus der durch die Wasseroberfläche von uns getrennten Welt zugleich gestillt und angeregt.
Für mich als Taucher und gelegentlichen Besucher dieser Welt ist es immer wieder erstaunlich, wie wenig dieser Schatz bemüht wird und wie viele Galaxien dort ungenutzt brach liegen.
Die Erfahrung des Helden in „Avatar“ bei seinem ersten Gang durch den Dschungel von Pandora erlebt eigentlich auch jeder Tauchanfänger bei einem seiner ersten Tauchgänge an einem tropischen Korallenriff. Bezaubert durch die Fremdartigkeit und Schönheit der Spiralwürmer nähert er sich ihnen, worauf sie blitzartig, wie durch Zauberhand, verschwinden.

Außer meinen kindlichen Träumen, ausgelöst durch die TV Serie „Sea Hunt“ mit Lloyd Bridges als Mike Nelson, war die Schwerelosigkeit im dreidimensionalen Raum eine der Ursachen meiner Faszination für die Welt unter Wasser.
Diese Schwerelosigkeit lässt sich vergleichen mit dem Erlebnis des Schwebens, wenn man, erfüllt von einem besonderen Glücksgefühl, durch die Straßen geht und meint, mit den Füßen den Boden nicht zu berühren. Einen dem Tauchgang vergleichbaren Grad der Wahrnehmung erreicht man bei den Farbräumen von James Turell oder den Nebelräumen von Olafur Eliasson.
Als Bildhauer beschäftigt man sich ja eigentlich immer mit dem Raum, mit dem Verhältnis von Volumen im Raum, der Bewegung, dem Einsetzen von Form in den Raum und der Verminderung des negativen Raumes dadurch. Diese Problematik kommt durch die Bewegung unter Wasser zu einer ganz neuen Dimension.

Wir befinden uns in der Lembeh Strait (Nord Sulawesi/Indonesien), vor dem Tauchgang in Air Parang.
Ali, unser Tauchguide, erklärt im Briefing die Besonderheiten der Tauchstelle, den geplanten Ablauf des Tauchganges: wo was zu finden sein könnte, wie lange, wie tief, wo eventuell der besonders seltene Rhinopias-Skorpionfisch anzutreffen wäre.
Vorbereitet ist dann schon das Tauchgerät, die Prozente der mit Sauerstoff angereicherten Atemluft (32%) sind kontrolliert, diese Prozentzahl in den Tauchcomputer eingegeben. Sind die Kameras startklar? Ist die richtige Linse montiert? Makro, Supermakro, sind die Blitze geladen?
Abfahrt mit dem Boot pünktlich auf die Minute. Viermal am Tag.
7:15, 10:30, 14:30, 18:00 Uhr, pro Tauchgang 60 – 90 Minuten.
Sehr froh bin ich, dass meine Frau Anna diese Ochsentour mit derselben Begeisterung mitmacht, nicht nur mitmacht, sie kümmert sich immer auch um die zweite Kamera und entdeckt die fantastischsten Tiere, während ich fotografiere.
Anzug zu, Blei rauf, Maske, Flossen. Letzte Kontrolle des Luftvorrates und hinein, hinab. Jedes Mal ein Schock – denn das Wasser ist für die Tropen ungewöhnlich kalt. Dafür gibt es hier die ungewöhnlichsten Tiere.
Wir folgen unseren Guides Ali oder Liberty, mit denen wir schon seit rund 15 Jahren bekannt sind und die die Unterwasserwelt hier besser kennen als ihre Hosentasche.
Das Wasser ist oft schmutzig. Als Erstes erkennt man alte Schuhe, verrostete Dosen und Flaschen im Lavasand.
Doch bei näherer Betrachtung bemerkt man – diese Dinge sind bewohnt. In der Colaflasche lebt ein Tintenfisch, unter dem Schuh ein Anglerfisch. Das soll nun kein Aufruf zur Verunreinigung der Meere sein. Und doch ziehen solche Achtlosigkeiten hin und wieder sehr erheiternde Wirkungen nach sich.

Bei Tauchgängen in dieser Gegend ist man als Fotograf ziemlich gefordert. Es gibt so viele seltene, einzigartige Tiere und Situationen, die man festhalten will. Das Wichtigste dabei ist, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Zum Beispiel ist man damit beschäftigt, einen kleinen Babyfrogfish richtig ins Bild zu bekommen, erhält aber ständig Zeichen von den Begleitern, sie hätten etwas gefunden, das unbedingt abgebildet werden sollte. Da muss man sich entscheiden, sonst läuft man Gefahr, viele mittelmäßige Bilder von vielen großartigen Motiven aufzunehmen.

Doch bekommt man auch die Gelegenheit, mehrmals zur selben Stelle zurückzukommen, um dasselbe immer wieder zu fotografieren, bis man ein Bild in der gewünschten Qualität hat.
Zum Beispiel zu den Kardinalfischen, von denen in einem Schwarm von hunderten zwei oder drei ihre Brut im Maul tragen und immer nur für den Bruchteil einer Sekunde die Eier mit frischem Wasser durchspülen. Unzählige Male drückt man einen Augenblick zu früh oder zu spät ab. So verbringt man Stunden unbeweglich an derselben Stelle, um den einen Fisch in der Menge, der gerade Eier trägt, an seine Anwesenheit zu gewöhnen. Die Kamera am Auge, den Finger am Auslöser. Und wenn man dann ganz ruhig, im Gleichklang mit dem Fisch, nur von der Strömung hin und her bewegt im Wasser liegt, dann gelingt eventuell ein Bild von dem mit Eiern gefüllten Rachen des Fisches. Oder man kann den Augenblick festhalten, wenn er die Brut ausspuckt und wieder einsaugt, was äußerst selten vorkommt.

Aber auch wenn es – was selten der Fall ist – nichts zu finden gibt, was sich lohnte, fotografiert zu werden, ist es ein fantastisches Erlebnis, sich schwerelos zu fühlen, sich auf einem Finger stehend zu drehen, Purzelbäume zu schlagen. Selbst mit einer schweren Stahlflasche auf dem Rücken kann man die ungewöhnlichsten Dinge tun.
Wenn man dann nach 60-90 Minuten im Wasser wieder am Boot auf dem Rückweg zum Resort ist, sitzen die meisten Taucher schweigsam da, jeder noch in Gedanken in dieser Welt unter der Oberfläche.