Peter Sloterdijk – Poetik der Entbindung - 1988
Texte

Meine Damen und Herren, würden wir uns am Ganges befinden, dann wäre heute meine Aufgabe wahrscheinlich leichter zu lösen. Ich bräuchte dann nicht umständlich einen philosophischen Existenzbegriff zu erläutern, ich müsste mich nicht um eine phänomenologische Beschreibung unseres In-der-Welt-Seins bemühen, ich hätte nicht zu erläutern, wie sich das lateinische Wort Existenz in dem griechischen Wort Ekstase spiegelt, es wären auch nicht viele Bemerkungen zu machen über die Fundierung des Ekstatischen im Alltäglichen und des Alltäglichen im Ekstatischen, und außerdem müsste ich nicht immer so unnatürlich deutlich sprechen, damit die Herren Aufnahmeleiter vom indischen Fernsehen zufrieden sind. In Frankfurt am Ganges säßen wir jetzt unter Mangobäumen in der Abendbrise, wir schauten hinüber zu den Ghats, wo die Frommen zum Tauchbad in den heiligen Fluss hinabsteigen, draußen auf dem offenen Wasser sähen wir hin und wieder mit Stoffen verschnürte Pakete schwimmen, die die Formen menschlicher Körper andeuten, die Luft wäre erfüllt von Geräuschen und Gerüchen, die an das Tote und das Lebende erinnern, die Sonne stünde schon tief über dem Strom, und ich würde anfangen, zu Ihnen zu sprechen, indem ich eine Geschichte erzählte. […] Es wäre eine Vergegenwärtigung tradierter Weisheit und kein Plagiat, wenn ich Ihnen die Geschichte von den Göttervögeln vortrüge. Die meisten unter Ihnen würden sie selbstverständlich kennen, denn Ramakrishna hat sie oft erzählt, Swami Muktananda hat sie erzählt, Sri Aurobindo hat sie erzählt, und außer ihnen hundert andere, jeder auf seine Weise, und jeder auch in seiner Art richtig, da es im Strom der mündlichen Überlieferung zwischen Originalen und Kopien keinen Rangunterschied gibt, hier ist die Wiederholung so originell wie das erste Mal und jede Reproduktion eine Premiere. Trotzdem wären Sie, meine Damen und Herren, erneut auf die Geschichte neugierig, weil Sie von früheren Vorträgen her wissen, dass man nie sicher sein kann, ob man sie verstanden hat. Ich würde also die Legende von den Vögeln erzählen, die höher fliegen, als die Gipfel des Himalaja aufragen. Sie heißen die Göttervögel, weil sie unsterblich sind. Schweben sie erst einmal in den Lüften, sind sie von den Schwerkräften der Erde entbunden. Sie brauchen keine Nahrung aufzunehmen, da sie sich vollständig selbst genügen. Nie landen sie auf dem Boden, ihr Aufenthalt sind ausschließlich die höchsten Regionen der Luft, sie schlafen auch in der freien Höhe, sie lieben sich unter offenem Himmel und über der offenen Erde, sie scheinen nichts zu brauchen außer Höhe und Weite, als seien sie imstande, sich durch die Nabelschnur der eigenen Seligkeit zu versorgen. Der einzige Augenblick im Göttervogelleben, in dem dieses losgelöste Dasein in Gefahr kommt, gestört zu werden, existiert ganz am Anfang. Denn als erdentbundene Geschöpfe legen die Göttervögel ihre Eier in die Luft. Während das Ei aus größter Höhe der Erde entgegenfällt, brütet die Sonne es aus. Wenn die Mutter hoch genug geflogen ist, dann ist die Zeit, die bis zum Ausschlüpfen des Jungen vergeht, gerade ausreichend, damit das stürzende Ei noch über der Erde von innen her zersprengt wird – der junge Göttervogel schlüpft in der Luft aus, er fühlt den Sturzwind in den Federn, er fängt sich im freien Fall, er breitet, die Flügel aus und beginnt wieder zu steigen. So ist zu der Gattung der seltenen und wunderbaren Vögel ein neues Exemplar hinzugekommen.

Aber längst nicht alle Jungen sind so glücklich, noch über der Erde auszuschlüpfen und sich noch in der Luft zu fangen. Vielleicht flog der Muttervogel bei der Eiablage nicht, wie nötig, bis in die äußersten Höhen, vielleicht haben Wolken die Sonne verdeckt und dem stürzenden Objekt die zum Brüten nötige Wärme vorenthalten, jedenfalls kommt es mehr als einmal vor, dass die Zeit für das Götterküken nicht genügt, um sich rechtzeitig zu befreien. Die Schwerkraft ist zu stark, der Sturz zu schnell, die zusammengepresste Gestalt des Vogels bleibt in dem kalkigen Gefängnis eingeschlossen, während der Erdboden sich bedrohlich nähert. Verzweifelt will das Junge heraus, aber es ist zu spät, die Erde saugt mit ungeheurem Sog das stürzende Ei zu sich hinunter, und so geschieht, was nie hätte geschehen dürfen und was sich doch all zu oft ereignet, das Ei zerschellt am Boden. Wie betäubt steckt das Junge in der zerbrochenen Schale, es ahnt noch einmal, dass es versäumt hat, rechtzeitig aufzufliegen, flügellahm liegt es auf der Erde, vom Blitz getroffen, von Helligkeit und Schwere niedergeschmettert. Nun wird es nie mehr fliegen lernen. Ist der erste Schock vorüber, so rafft es sich auf, es flattert auf der Stelle, dann resigniert es vor der Schwerkraft und versucht, wenigstens selber gehen zu lernen. Das gelingt auch meistens – manche von den abgestürzten Göttervögeln reden in ihrem späteren Leben immerzu davon, wie wichtig für ihresgleichen der aufrechte Gang sei. Aber soviel die vertikalen Tiere auch auf dem Erdboden herumlaufen, sie werden nie das Gefühl abschütteln, dass etwas mit ihnen nicht völlig in Ordnung ist. In einem verborgenen Winkel ihres Gedächtnisses lebt eine Ahnung davon weiter, dass einmal andere Möglichkeiten offenstanden, die ihnen vorenthalten blieben.

Meine Damen und Herren, nur bis hierher will ich die Geschichte ausführen, die ich Ihnen […] am Ganges unter den Mangobäumen erzählt hätte. Sie dürfen sich darauf verlassen, dass ich das alles breit ausgeschmückt hätte, wie einen philosophischen Märchenteppich, in den immer neue Fäden eingesponnen werden. Ich hätte manche Binnengeschichten erzählt, zum Beispiel über Erdvögel, die am Ende doch wieder fliegen lernten, und hätte analytische und mystische Kommentare dazwischen geflochten über Ramana Maharshi und Meister Hakuin, über Johann Gottlieb Fichte und Rabbi Derrida, über indische Mitternachtskinder und kalifornische high-noon-children. Es wäre inzwischen dunkel und auf dem Wasser des Ganges trieben schon kleine Öllämpchen, die an die Seelen auf ihrem Weg zum Meer erinnern. Das Publikum löste sich jetzt allmählich auf, die Zuhörer verlören sich in den Straßen der Stadt, bald käme die Stunde, wo die hungrigen weißen Büffel über die Plätze streifen, um in den Müllhaufen nach essbaren Resten zu suchen. Sicher hätten die meisten Hörer die Geschichte sofort vergessen, nur der eine oder andere ginge nach Hause mit dem Gefühl eines Ziehens zwischen den Schulterblättern. Die Leute von Frankfurt am Ganges sind manchmal sehr suggestibel, sie können die seltsamsten imaginären Physiologien persönlich nehmen, und nach dieser Geschichte hätten wohl manche von ihnen die untrügliche Empfindung, dass sich in ihrem Rücken die verkümmerten Ansätze von Flügeln bemerkbar machen. Zwar ist es unmöglich, und trotzdem geschieht es in unmissverständlichen Zeichen. An einem Abend wie diesem fiele manchen das Einschlafen schwer, bis drei Uhr morgens wälzten sie sich im Bett, schlaflos vor Nichtfliegenkönnen.

[…]

Aber auch hierzulande machen Menschen in steigender Zahl ihre Erfahrungen mit der Schlaflosigkeit. Mediziner behaupten, das Phänomen habe sich in den letzten Jahren zu einer Epidemie entwickelt, jeder vierte oder fünfte sei davon betroffen. Für Schriftsteller ist das eine Nachricht, die Hoffnungen weckt. Meine Damen und Herren, ich setze auf folgende Spekulation: Wenn es Menschen gibt, die wegen des Gefühls, nicht fliegen zu können, schlaflos werden, so müsste es auch Menschen geben, die mit Hilfe der Schlaflosigkeit auf das Gefühl, nicht fliegen zu können, stoßen. Man nennt das Ausdrucksumkehrung. Zum Beispiel geht seelischer Kummer üblicherweise den Weg von innen nach außen, vom Affekt zu den Tränen. Aber es gibt genauso den umgekehrten Weg: Man schneidet einigermaßen fröhlich die Zwiebeln für den Coq au vin, der Zwiebelsaft reizt die Augenhäute, es tränt, die gute Laune verfliegt mit einem Schlag, und weil man ohnehin schon beim Weinen ist, nimmt man die Gelegenheit wahr, den ganzen Jammer dieser Welt zu empfinden. Dank solcher Rückwirkungen ist auch die Schlaflosigkeit ein fruchtbares Kapitel der Philosophie. Ich gehe so weit zu behaupten, dass philosophisches Denken nur bei Schlaflosen Tiefe bekommt, weil die Nacht die Mutter der Ontologie ist.

Alles ist still, ich bin allein, es gibt nur mein Wachsein, das wie eine Zeitbombe tickt, und sein Gegenüber, die dunkle, formlose Masse der Welt, die mich anschweigt und zur Entmenschung einlädt. In solchen Augenblicken wird klar, dass das Wort Sein ein Synonym für das Nichts ist – bevor man das nicht weiß, lässt einen das ontologische Problem in Ruhe.

Mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Aus Peter Sloterdijk: Zur Welt kommen – Zur Sprache kommen. Frankfurter Vorlesungen. Berlin 1988, Edition Suhrkamp 1505, S.99-105.